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Die Chemie des schwarzen Tees

Meister der molekularen Vielfalt

Die rätselhafte Substanzklasse der Thearubigene, die 60 bis 70 % aller in schwarzem Tee gelösten Inhaltstoffe ausmachen und ihm Aroma und die typische braunrote Farbe verleihen, war trotz intensiver Bemühungen bis heute chemisch nicht näher charakterisiert. Nun ist es erstmals gelungen, mithilfe einer speziell angepassten, hochauflösenden Massenspektrometriemethode bis zu 30.000 verschiedene Verbindungen in der Thearubigen-Fraktion verschiedener Schwarztees nachzuweisen; rund 1.500 davon konnten durch eine Strukturformel charakterisiert werden.

Tee gehört zu den ältesten Getränken der Menschheit. Seit fast 5000 Jahren werden Teile der Teepflanze Camellia sinensis (Blätter, Knospen, Blüten, Stängel) heiß aufgebrüht und der Sud getrunken. Schwarzer Tee, der durch die Fermentation der grünen, vor dem Trocknen zerquetschten Teeblätter entsteht, wurde erstmals zu Zeiten der chinesischen Tang-Dynastie erwähnt und somit gibt es ihn wohl seit etwa 1500 Jahren. Heute ist schwarzer Tee, abgesehen von Wasser, das weltweit meist konsumierte Getränk mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Verbrauch von gut einem halben Liter am Tag. Darüber hinaus ist schwarzer Tee mit bis zu drei Millionen Tonnen globalem Jahresertrag, der je nach Weltmarktpreisen einen Gesamtwert von mehr als 10 Mrd. US-Dollar erzielen kann, eines der wichtigsten Produkte der Agrarwirtschaft. [1] Trotz seiner enormen Bedeutung für Ernährung, Wirtschaft und Kulturgeschichte war die chemische Zusammensetzung des schwarzen Tees bis heute größten Teils ungeklärt, ja regelrecht geheimnisvoll. Neben dem allgemein bekannten Inhaltsstoffen wie Zuckern, Proteinen und Koffein waren bislang nur rund ein Drittel aller in schwarzem Tee gelösten und unter dem Sammelbegriff „Gerbstoffe“ zusammengefassten Substanzen chemisch charakterisiert.
Knackpunkt sind die so genannten Thearubigene, die zwar bereits 1959 von E. A. H. Roberts erstmalig isoliert und beschrieben wurden [2], an deren Strukturanalyse sich alle Arbeitsgruppen, die sich mit diesem Thema beschäftigten, jedoch seit über 50 Jahren die Zähne ausbissen. Thearubigene entstehen bei der Fermentierung des grünen Teeblattes aus dessen Hauptinhaltsstoffen, den Catechinen (Fermentation ist hier ein traditioneller, aber sehr unglücklicher Begriff, da bei der Teefermentation keine Mikroorganismen am Werk sind und sie nur in Gegenwart von Sauerstoff stattfindet). Das grüne Teeblatt produziert sechs Catechine (1-6) als etwa 20 % seiner Trockenmasse, d.h. Seine Hauptsekundärmetabolite. In der Teefermentierung werden diese Substanzen, die in der Zellvakuole gespeichert sind, zerstört und durch die mechanische Prozessierung des Teeblattes mit dem Enzym Teepolyphenoloxidase (TPPO) in Verbindung gebracht, das sich an der Außenmembran der Zellvakuole befindet. Dieses Enzym TPPO oxidiert nun die Catechine zu etwa 40 gut charakterisierten Produkten, von denen die wichtigsten Theaflavin, Theasinensin, Theacitrin oder Theanaphthoquinon sind. Das Hauptreaktionsprodukt dieser enzymatischen Oxidationsreaktion sind jedoch die Thearubigene (zu Strukturen und Reaktion siehe Abb. 1). Vergleicht man ein Chromatogramm des grünen Tees mit einem des schwarzen Tees, so fällt das Fehlen fast sämtlicher Catechine im schwarzen Tee auf, die durch einen nicht aufgelösten, gaussförmigen Buckel, den sog. Theaurubigenbuckel, ersetzt wurden (Abb. 2) [1].

Die Analyse und Charakterisierung dieses Buckels stellte für Jahrzehnte ein unlösbares Problem dar, das durch die analytischen Standardverfahren der Lebensmittelchemie nicht gelöst werden konnte. Bei der Analyse von Schwarztee konnten innerhalb des Buckels nur wenige markante und gut zu deutende Einzelsignale erfasst werden, die ein Ableiten von Molekülstrukturen für einzelne Inhaltsstoffe zuließen. Der größte Teil der Schwarzteeanalyse bestand bislang aus einem undifferenzierten, nicht näher interpretierbaren Signalrauschen, das zu jahrzehntelangen Diskussionen und Spekulationen führte. [3]. Zusammen mit Wissenschaftlern der britischen University of Surrey, der Bremer Firma Bruker Daltonics und der Forschungsabteilung des Lebensmittelkonzerns Unilever untersuchte die Arbeitsgruppe der Jacobs-University insgesamt 15 handelsübliche Schwarzteesorten mit einer Reihe sich ergänzender Analyseverfahren.
Sie konnte zeigen, dass die aus Schwarztee isolierten Thearubigene typischerweise kleine Moleküle sind (Molekulargewicht zwischen 300 und 2100 Dalton) und zur Gruppe der Polyphenole gehören [4]. Das sind aromatische Verbindungen, die in allen Pflanzen vorkommen, zum Beispiel als Blütenfarbstoffe oder als Bitterstoffe, die Fressfeinde abschrecken und die Pflanzen vor UV-Strahlung schützen. Die nötige Messgenauigkeit zur Auftrennung der vielen, zu einem diffusen „Buckel“ verschmolzenen Einzelsignale haben wir erst durch den Einsatz einer kürzlich für die petrochemische Analytik entwickelten ultrahochauflösenden Massenspektrometriemethode, der so genannten Fouriertransformation-Ionenzyklotronresonanz-Massenspektrometrie (FT-ICR-MS), erzielen können. Deren Auflösungsvermögen übertrifft unsere Standardverfahren um ein 1000-Faches. Mithilfe dieser ultrahochauflösenden Massenspektrometrie fanden wir aufgelöste Signale, die rund 5000 verschiedenen Verbindungen in der Thearubigenfraktion der untersuchten Schwarztees entsprechen. In mehreren Fällen waren es sogar knapp 10.000 [5].

Da durch Massenspektrometrie isomere Verbindungen (Verbindungen mit unterschiedlicher chemischer Struktur, aber identischer Summenformel) nicht getrennt bestimmt werden können, muss diese Zahl noch mit der durchschnittlichen Anzahl der vorliegenden Isomere multipliziert werden. In einer weiteren Arbeit konnten wir jüngst zeigen, dass pro Summenformel im Durchschnitt etwa sechs Isomere vorliegen, sodass sich als Gesamtzahl aller in der Thearubigenfraktion messbaren chemischen Verbindungen eine Zahl von 30.000 bis 60.000 ergibt [6]. Das ist zehnmal mehr als bisher erwartet und bedeutet, dass schwarzer Tee nach Erdöl das komplexeste Material ist, das jemals analysiert werden konnte. Die Teepflanze darf somit als ultimativer Meister der molekularen Vielfalt betrachtet werden. Die Präsenz so vieler und sehr ähnlicher Stoffe erklärt auch das Versagen der bisherigen analytischen Verfahren. Zur Interpretation dieser äußerst komplexen Messdaten wandten wir zunächst ursprünglich aus der Erdöl-Forschung stammende Methoden an wie die Analysen nach van Krevelen und Kendrick, mussten dann jedoch eine weitere Anzahl innovativer, computerbasierter Diagnoseprotokolle entwickeln, die wir an die Interpretation der Schwarzteedaten anpassten [4,5]. Insgesamt konnten wir bisher 1.517 individuelle Strukturformeln den Messsignalen zuordnen, von denen bisher weitere 500 experimentell durch Tandemmassenspektrometrie verifiziert werden konnten [6].
Die faszinierendste Frage, die sich bei der Dateninterpretation stellte, war, wie es dem Tee möglich ist, aus nur sechs Ausgangsstoffen in Gegenwart von Sauerstoff, Wasser und eines einzigen Enzyms zehntausende von niedermolekularen Produkten zu bilden. Das ist eine molekulare Vielfalt, die bisher so nie in der Natur beobachtet wurde. Zur Erklärung der Chemie des schwarzen Tees entwickelten wir eine Hypothese, die wir „oxidative cascade hypothesis“ nannten [4–6]. Die Catechine 1-6 werden hierbei auf drei Reaktionsebenen durch Oxidation chemisch modifiziert. Auf der ersten Ebene dimerisieren und oligomerisieren Catechine durch Knüpfung neuer Kohlenstoff-Kohlenstoff-Bindungen. Hierbei werden die vier Reaktionsmechanismen genutzt, die bereits bei der Bildung von Theaflavin, Theasinensin, Theacitrin oder Theanaphthoquinonen beobachtet wurden [1,5]. Auf der zweiten Ebene werden diese Reaktionsprodukte zu Orthoquinonen oxidiert, die als reaktive Elektrophile Wasser addieren. Formal ergibt sich hierbei eine Insertion von Sauerstoff in eine aromatische C-H-Bindung. Letztlich stehen die hieraus resultierenden Polyphenole mit ihren Quinonen in einem Oxidationsgleichgewicht. Auf jeder Ebene ergibt sich eine Vielzahl von isomeren Verbindungen. Der Begriff „cascade“ beschreibt die Tatsache, dass die Reaktion unaufhaltsam, gleichsam lawinenartig, fortschreitet, da jedes Reaktionsprodukt leichter als sein Vorgänger zu oxidieren ist. Mit der von uns entwickelten Methode zur Analyse des schwarzen Tees eröffnen sich viele neue und spannende Perspektiven für die Lebensmittelchemie von Naturprodukten: Ähnlich wie petrochemische Proben zeichnen diese sich oft durch äußerst komplexe, schwer zu charakterisierende Mischungen von Inhaltstoffen aus; Schokolade, gerösteter Kaffee oder auch Karamell sind hier typische Beispiele. Im Fall unserer Schwarzteestudie lassen sich die Ergebnisse für die Geschmacks-, Farb- und Haltbarkeitsoptimierung eines wertvollen Lebensmittels verwenden. Darüber hinaus haben wir erstmals auch eine wissenschaftliche Basis, um die gesundheitsfördernden Wirkungen [7] einzelner, genau definierter Teebestandteile zu untersuchen.

Letztlich stellt die Chemie des schwarzen Tees, die auch allgemein als Pflanzenbräunung beschrieben wird, keine Einzelkuriosität dar, sondern wird von fast allen Pflanzen als Abwehrstrategie genutzt. Allseits bekannte Beispiele hierfür sind die Braunfärbung des Apfels nach dem Anschneiden oder die Schwarzfärbung der Banane. Auch hier reagiert eine Polyphenoloxidase mit phenolischen Sekundärmetaboliten und produziert ein braunes Material, welches den Thearubigenen chemisch sehr ähnlich ist. Eine aufregende Frage für die Zukunft ist hierbei, warum Pflanzen etwas so Verrücktes machen, nämlich zehntausende Verbindungen in sehr kleinen Konzentrationen zu produzieren und so einen evolutionären Vorteil geniessen. Höchstwahrscheinlich geschieht dies, um ihre Frassfeinde und andere Mikroorganismen abzuschrecken oder zu töten. Nach unserem bisherigen Verständnis produzieren lebende Organismen Sekundärmetaboliten in hohen Konzentrationen, die so hoch sind, dass sie zumindest die Enzyme des Frassfeindes hemmen können. Somit stellt die Chemie des schwarzen Tees das zentrale Dogma der Molekularbiologie in Frage, nämlich dass das Leben selbst und jeglicher evolutionärer Fortschritt auf molekularer Ebene ausschließlich auf spezifischen und selektiven molekularen Interaktionen beruhe. Warum die Teepflanze und viele andere Pflanzen von diesem Dogma abzuweichen scheinen und eine andere Strategie wählen, dürfte uns noch lange Jahre zu neuer Forschung inspirieren.

>> n.kuhnert@jacobs-university.de

Literatur
[1] Drynan, J. W.; Clifford, M. N.; Obuchowicz, J.; Kuhnert, N.The chemistry of low molecular weight black tea polyphenols. Natural Product Reports 2010, 27, 417-462.
[2] Roberts E. A. H.; Myers, M. The phenolic substances of manufactured tea IV. Enzymic oxidation of individual substrates. J. Sci. Food Agric. 1959, 10, 167-179.
[3] Haslam, E. Thoughts on the thearubigins. Phytochem.2003, 64, 61-73.
[4] Kuhnert, N., Unraveling the structure of the black tea thearubigins. Archives of Biochemistry and Biophysics 2010, 501, 37-51.
[5] Kuhnert, N.; Drynan, J. W.; Obuchowicz, J.; Clifford, M. N.; Witt, M., Mass spectrometric characterization of black tea thearubigins leading to an oxidative cascade hypothesis for thearubigin formation. Rapid Communications in Mass Spectrometry 2010, 24, 3387-3404.
[6] Kuhnert, N.; Clifford, M. N.; Müller, A. Analysis of black tea thearubigins: Evidence for oxidative cascade reactions forming the thearubigins. Food and Function, 2010, 1, 180-199.
[7] Gardener, E. J.; Ruxton, C. H. S.; Leeds, A. R. Black tea – helpful or harmful? A review of the evidence. Eur. J. Clin. Nutrition 2006, 1-16.

L&M 1 / 2011

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 1 / 2011.
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