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Wechselwirkung zwischen Lebensmitteln und Gehirnfunktion

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Die Wechselwirkungen zwischen Nahrung und Gehirnfunktion sind vielfältig. Zum einen können Lebensmittelbestandteile die Gehirnaktivität und ­-funktionalität beeinflussen. Individuelle physiologische und pathologische ­Unterschiede in der Gehirnfunktion beeinflussen jedoch auch Auswahl und Menge unserer Nahrung. Schließlich können einzelne Lebensmittel bestimmte Gehirnareale aktivieren oder deaktivieren, was bspw. zu einer verstärkten ­Aufnahme dieser Lebensmittel führen kann. Im Emerging-Field-Projekt ­„Neurotrition“ der Universität Erlangen-Nürnberg werden diese Wechsel­wirkungen in einem interdisziplinären Forschungsverbund untersucht.

Lebensmittel wirken auf Gehirnaktivität und -funktion

Jeder Kaffeetrinker weiß aus eigener Erfahrung, dass Lebensmittel Gehirnaktivität und -funktio­nen beeinflussen können. Seit Langem ist bekannt, dass das im Kaffee enthaltene Koffein im Gehirn an die Adenosinrezeptoren bindet und dadurch das Schlafbedürfnis verringert und die Konzentrationsfähigkeit, aber auch die körperliche Ausdauer erhöht. Die durch koffeinhaltige Lebensmittel wie Kaffee, Tee oder Energydrinks aufgenommenen Mengen reichen aus, klinisch nachweisbare Effekte hervorzurufen [1].

Auch andere Lebensmittel können die Gehirn­aktivität beeinflussen. So konnte im ­Rahmen des Forschungsverbunds „Neurotrition“ u.a. gezeigt werden, dass Terpenoide aus Teeextrakten den GABAA-Rezeptor modulieren. GABAA-Rezeptoren kommen in zahlreichen Hirn­arealen vor. Als besonders aktiv erwies sich hierbei Sideritisextrakt, der in Mittelmeer­regionen als „Bergtee“ konsumiert wird. Binden darin enthaltene Terpenoide wie z.B. -Caryo­phyllen an den GABAA-Rezeptor, wird die Wirkung des natürlichen Liganden GABA am Rezep­tor verstärkt (Abb.1). Dies führt zu einem vermehrten Einstrom von Chloridionen in das Neuron und in der Folge zu einer erhöhten Dämpfung des Signals des erregten Neurons. Die pharmakologische Modulation des GABAA-Rezeptors ist assoziiert mit sedierenden, angstlösenden und muskelrelaxierenden Wirkungen [2]. Weitere Studien müssen nun zeigen, ob auch andere Extrakte und Inhaltsstoffe ähnliche Aktivität besitzen und ob die im Labor beobachteten Effekte auf den Menschen übertragbar sind.


Abb.1 Sideritisextrakte, die in Mittelmeerregionen als „Bergtee“ konsumiert werden, verstärken die Wirkung des natürlichen Liganden GABA am GABAA-Rezeptor. ß-Caryophyllen stellt dabei einen wirksamen Inhaltsstoff dar. Die pharma­kologische Modulation des GABAA-Rezeptors ist assoziiert mit sedierenden, angstlösenden und muskelrelaxierenden Wirkungen.

Hedonische Hyperphagie – die magische Anziehungskraft der Chipstüte

Viele Konsumenten beobachten an sich selbst, dass manche Lebensmittel die Kontrolle der Nah­rungsaufnahme zeitweise außer Kraft setzen können. Bei Energiemangel sendet unser Körper Signale wie z.B. das Darmhormon Ghrelin von der Peripherie an das Gehirn. Dort werden Sätti­gungsschaltkreise inaktiviert und damit die Nahrungssuche und -aufnahme ausgelöst. Der Konsum von Lebensmitteln aktiviert unter diesen Bedingungen Belohnungsschaltkreise im Gehirn. Dies erzeugt ein Gefühl des „Wollens“ (engl. wanting), das die Nahrungsaufnahme verstärkt (Abb.2a). Im hungrigen Zustand empfinden wir über diese Mechanismen starkes Verlangen ­weiterzuessen. Im Laufe der Mahlzeit werden vom Körper dann Signale an das Gehirn übermittelt, die eine Erhöhung des Energiestatus anzeigen, z.B. über die Freisetzung von Insulin. Dadurch werden Sättigungsschaltkreise im Gehirn aktiviert, die Nahrungsaufnahme wird unterdrückt und die Aktivierung der Belohnungsschaltkreise durch das Essen zurückgedrängt (Abb.2b). Sind wir satt, bereitet das Essen keine Befriedigung mehr und die Mahlzeit wird beendet [3]. Diese komplexen Regulationsmechanismen gewährleisten, dass sich Energieaufnahme und -verbrauch einigermaßen die Waage halten.

Allerdings erleben viele Konsumenten, dass bestimmte Lebensmittel diese Regulationsmechanismen aus dem Gleichgewicht bringen. So können wir Knabberartikel wie Kartoffelchips oder Süßigkeiten wie Schokolade auch kurz nach einer vollwertigen Mahlzeit in beträchtlichem Umfang zu uns nehmen. Besonders bemerkenswert ist dabei der oft empfundene Kontrollverlust: Man kann erst aufhören zu essen, wenn die Chipstüte leer oder die Tafel Schokolade verspeist ist. Dieses Phänomen wird auch als „hedonische Hyperphagie“ bezeichnet und trägt zum Teil erheblich zur Ausbildung von Übergewicht bei. Im Rahmen des Verbundprojektes Neuro­trition wird nun untersucht, über welche Mechanismen Lebens­mittel die Regulation der Nahrungsaufnahme außer Kraft setzen und welche Lebensmittelinhaltsstoffe für diese Effekte verantwortlich sind.






Abb. 2 Bei Energiemangel sendet unser Körper Signale wie z.B. das Darmhormon Ghrelin von der Peripherie an das Gehirn (2a). Dort werden Sättigungsschaltkreise inaktiviert und damit die Nahrungssuche und -aufnahme ausgelöst. Der Konsum von Lebensmitteln aktiviert unter diesen Bedingungen Belohnungsschaltkreise im Gehirn, wodurch die Nahrungsaufnahme verstärkt wird. Der gesättigte Zustand wird ebenfalls über ­nervöse und hormonelle Signale, z.B. Insulin, dem Gehirn gemeldet (2b). Dadurch werden Sättigungsschaltkreise im Gehirn aktiviert, die Nahrungsaufnahme wird unterdrückt und die Aktivierung der Belohnungsschalt- kreise durch das Essen zurückgedrängt. Bestimmte Lebensmittel wie ­Kartoffelchips können vermutlich diese Regulationsmechanismen außer Kraft setzen (2c). Bei Ratten führt die Aufnahme von Kartoffelchips zu einer Inaktivierung der Sättigungs- und zu einer Aktivierung der Belohnungsschaltkreise. Dies kann unabhängig vom Energiestatus zu einer oft schwer kontrollierbaren Aufnahme führen.

MEMRI – die Gedanken sichtbar machen

Bis vor Kurzem war es noch nicht möglich, während des Essens auf­tretende Vorgänge im Gehirn durch bildgebende Verfahren sichtbar zu machen. Für die Untersuchung von Gehirnaktivitätsmustern eignet sich vor allem die funktionelle Magnetresonanz-Bildgebung (engl. functional magnetic resonance imaging, fMRI). Allerdings erfolgen Messungen an Versuchsstieren unter Narkose, was die Anwendung von fMRI während der Futteraufnahme ausschließt. Im Rahmen einer Studie konnten wir nun mit einer neu entwickelten MRI-Methode erstmals die Gehirnaktivität von Ratten während der Futteraufnahme untersuchen. Bei der so genannten manganverstärkten MRI (engl. manganese-enhanced MRI, MEMRI) wird vor dem Versuch Mangan appliziert. Dieses reichert sich während des Versuchs in aktiven Gehirnregionen an und dient in den folgenden MRI-Messungen als Kontrastmittel. Bisher schränkte die Toxizität des Mangans jedoch den Einsatz ein, da es gravierende Verhaltensänderungen bei den Versuchstieren hervorrief. Durch eine veränderte Applikationstechnik war es Eschenko und Mitarbeitern kürzlich gelungen, über einen Zeitraum von mehreren Tagen die Gehirnaktivität durch MEMRI ohne Auswirkung auf das Verhalten zu verfolgen [4]. Diese modifizierte MEMRI-Methode ermöglichte uns zu untersuchen, welche Prozesse verschiedene Testfutter während der Futteraufnahme über einen Zeitraum von bis zu sieben Tagen im Gehirn von Ratten auslösen.

Die Modulation des Gehirnaktivitätsmusters durch Kartoffelchips
Zu Beginn der Studie zeigte sich, dass Ratten ein gutes Modell darstellen, um die durch Kartoffelchips ausgelöste hedonische Hyperphagie zu untersuchen: Bietet man ad libitum gefütterten Ratten für einen kurzen Zeitraum (10 Minuten) gleichzeitig in identischer Form Kartoffelchips und Standardfutter an, führt dies zu einer verstärkten Aufnahme von Kartoffelchips, während das Standardfutter verschmäht wird. Demnach lassen sich auch Ratten in sattem Zustand durch Kartoffelchips zum „Snacken“ verführen [5]. Wir boten den Ratten dann über sieben Tage zusätzlich zum normalen Futter entweder Kartoffelchips oder Standardfutter an. Die Ratten mit Zugang zu Kartoffelchips nahmen durch das Zusatzfutter mehr als doppelt so viele Kalorien auf wie die Ratten, die nur Standardfutter ­fressen durften. Auch in der Gehirnaktivität zeigten sich zwischen beiden Gruppen gravierende Unterschiede: In der Kartoffelchipsgruppe war die Aktivität von zehn Gehirnstrukturen verändert, die in engem Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme stehen. So wurde zum Beispiel der Nucleus arcuatus, eine wichtige Struktur des Sättigungsschaltkreises, durch die Aufnahme von Kartoffelchips inaktiviert. Besonders auf­fällig war, dass 27 Strukturen des Belohnungsschaltkreises betroffen waren. So wurden Teile des Nucleus accumbens, der Schlüsselstruktur der Belohnung, bei Kartoffelchipkonsum bis zu 15-mal stärker aktiviert (Abb.3) [6]. Daraus kann man schließen, dass Kartoffelchips die neuronale Regulation der Nahrungsaufnahme verändern. So werden offensichtlich auch im satten Zustand die Belohnungsschaltkreise aktiviert und dabei gleichzeitig die Sättigungssignale zurückgedrängt (Abb.2c). Das führt dazu, dass Snackartikel im Gegensatz zu „normalen“ Lebensmitteln auch ohne Hungergefühl verzehrt werden. Dieser Mechanismus würde übrigens auch den häufig wahrgenommenen Kontrollverlust erklären. Aus der Drogenforschung wissen wir, dass die unnatürlich starke Aktivierung der Belohnungssysteme durch Drogen die kogni­tive Kontrolle des Verhaltens fast vollständig außer Kraft setzen kann [7].


Abb.3 Die manganverstärkten Magnetresonanz-Bildgebung (manganese-enhanced magnetic resonance imaging, MEMRI) zeigt, dass der Verzehr von Kartoffelchips das Gehirnaktivitätsmuster bei Ratten deutlich verändert. Zum Beispiel erfolgt eine starke Aktivierung des Nucleus accumbens (AcbSh L, AcbSh R, AcbC L, AcbC R), der eine Schlüsselstruktur der Belohnungsschaltkreise darstellt.

Was macht Kartoffelchips so besonders?

Obwohl Nahrungspräferenzen sehr hohen in­dividuellen Schwankungen unterliegen, rufen doch meist immer die gleichen Lebensmittel eine ­hedonische Hyperphagie hervor – unabhängig von persönlichen Vorlieben. Meist werden von den Konsumenten in diesem Zusammenhang Knabberartikel wie Chips oder Schokolade genannt. In der Fachliteratur wird vor allem der hohe Kaloriengehalt als Auslöser diskutiert. Aller­dings wissen wir aus eigener Erfahrung, dass Lebensmittel mit maximalem Kaloriengehalt wie z.B. reines Öl oder Butter nicht die höchste Attrak­tivität besitzen. Die Zusammenhänge müssen deshalb komplexer sein. Aus diesem Grund haben wir im Rahmen des Verbundprojektes „Neutrotrition“ ein Test­system entwickelt, in dem molekulare Bestandteile von Lebens­mitteln, die eine verstärkte Nahrungsaufnahme induzieren, systematisch untersucht werden können [5]. Ad libitum gefütterten Ratten mit ständigem Zugang zu Standardfutter wurden in einem für die Fragestellung adaptierten Prä­ferenztest in einer Snacksituation jeweils zwei Futtersorten angeboten. Durch geschickte Auswahl der Testfutter kann anhand der Futter­auf­nahme und Bewegungsaktivität beurteilt werden, welche Bestandteile der Kartoffelchips besonders attraktiv sind. Dabei zeigte sich, dass nicht unbedingt der Kaloriengehalt, sondern vor allem die Kombination von Fett und Kohlen­hydraten –zumindest bei Ratten- eine wichtige Determinante der Futteraufnahme darstellt. Aber auch andere Parameter, die noch aufgeklärt werden müssen, scheinen eine wichtige Rolle zu spielen.

Ausblick

Die Wechselwirkungen zwischen Lebensmitteln und Gehirnfunktion sind vielfältig und stehen nicht nur im engen Zusammenhang mit Über­gewicht, sondern auch mit Krankheiten wie Alzheimer Demenz oder Depres­sionen. Im Rahmen des Verbundprojekts „Neurotrition“ werden diese Zusammenhänge in verschiedenen Bereichen und auf verschiedenen Ebenen von der Erforschung der molekularen Wechselwirkung bis hin zu klinischen Studien beleuchtet. Am Ende müssen gerade Untersuchungen am Menschen zeigen, ob die im Labor gefundenen Zusammen­hänge tatsächlich unser Verhalten und die Entwicklung von Krankheiten beeinflussen können. Das Projekt „Neurotrition“ wird von der Emerging-Field-Initiative der FAU unterstützt.

Literatur

[1] Sicard, B. (2003) Spektrum der Wissenschaft, 65–71
[2] Kessler, A. et al. (2014) Mol. Nutr. Food Res. 58, 851–862
[3] Harrold, J. A. et al. (2012) Neuropharmacology 63, 3?–17
[4] Eschenko, O. et al. (2010) Neuroimage 49, 2544–2555
[5] Hoch, T. et al. (2014) Front. Psycholog. 5, 250
[6] Hoch, T. et al. (2013) PLoS One 8, e55354
[7] Kenny, P. J. (2011) Nat. Rev. Neurosci. 12, 638–651

Bild: © istockphoto.com|CathyKeifer
© panthermedia.net| jirkaejc

L&M 6 / 2014

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 6 / 2014.
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