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Altersbedingte Veränderungen im Innenohr und ihre Folgen

Im Labyrinth eines ­unterschätzten Sinns

Stellen Sie sich vor: Sie wachen auf, setzen sich im Bett auf und können Ihre Umwelt nicht mehr sehen, weil Sie Ihren Blick nicht auf einen Punkt richten können, da Ihre Augen ungewollt hin und her zucken. Stellen Sie sich vor: Sie sind auf einer Familienfeier und stellen fest, dass Sie nicht mal mehr die Hälfte der Gespräche verfolgen können, da alle Wortfetzen der verschiedene Sprecher ineinanderfließen. Stellen Sie sich vor: Sie wollen eine Treppe ohne Geländer hinuntergehen und bei jeder Stufe müssen Sie sich hinsetzen, um vorsichtig einen Fuß nach dem anderen auf die nächstniedrigere Stufe zu setzen. Dies sind nur einige ausgewählte Probleme, die ältere Menschen betreffen – dies insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die durchschnittliche Lebenserwartung drastisch zugenommen hat und vor allem in den nächsten 30 Jahren viele Menschen aus den geburtenstarken Nachkriegsjahren bis über 70 Jahre alt werden.

Das Innenohr – der Sitz je eines Sinnes für eine aufrechte Haltung und eine gute Kommunikation

Das Ohr des Menschen ist aus drei Sinnen zusammengesetzt, dem Hörsinn, den jeder kennt, dem Drehsinn, den man durch einfaches Kopfbewegen stimuliert und dem Schwerkraftsinn, der uns über die Position und Bewegung im Raum informiert. Schwerkraft und Drehsinn wurden erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts als mit dem Ohr verbunden erkannt und erst im 20. Jahrhundert hat man entdeckt, dass der Gleichgewichtssinn evolutionsbiologisch älter ist als der Gehörsinn. Weiterführende Arbeiten haben inzwischen festgestellt, dass der Gehörsinn aus dem Gleichgewichtssinn entstanden ist. Der Hör­sinn ist evolutionär der jüngste Sinn des Ohres, genau gegenteilig zur menschlichen Entdeckungsgeschichte der Ohrfunktion (Abb.1) [1].


Abb.1 Das linke Innenohr einer Maus, rekons­truiert aus optischen Schnitten. Das oberste Bild zeigt eine Seitenansicht, das untere Bild eine ­Ansicht von unten. C steht für Cochlea in dem sich das Hörorgan befindet, AC, HC und PC steht für die Sinnesendstellen der drei Kanäle, die Be­wegungen im Raum wahrnehmen, U und S stehen für die zwei Organe, die die Schwerkraft wahrnehmen.

Haarsinneszellen sind der sensorische Baustein jedes Innenohrsinnes
Der Hintergrund für diese Gemeinsamkeiten der drei Sinne des Ohres geht auf die Funktion der Haarsinneszelle zurück. Die Haarsinneszelle galt für viele Jahre als Neubildung, die an der Basis der Wirbeltiere entstanden ist. Neuere Arbeiten haben diese Betrachtungen relativiert und eine morphologische Entwicklungskette aufgezeigt, die vermuten lässt, dass die Haarsinneszelle des Innenohres sich graduell über Jahrmillionen hinweg aus einer Vorstufe entwickelte, die vielleicht bis zu den einzelligen Vorfahren aller Tiere zurückgeht [2]. Diese auf der Morphologie der Zellen basierende Einsicht ist mittlerweile auch durch molekularbiologische Befunde erhärtet worden. Die Funktion dieser Zellen ist es, jegliche mechanische Bewegung in elektrische Signale umzuwandeln. Auch andere Zellen können dies, aber nur die Haarsinneszelle hat eine so hohe Auflösung, dass die Bewegungen von wenigen Molekülen ausreichen, um diese Zellen zu erregen. Diesen ungeheuren Feinsinn ermöglichen spezialisierte Fortsätze der Zelle, die sogenannten Stereozilien. Diese Stereozilien sind umgewandelte Fortsätze, wie sie sich in vielen Zellen finden. Bei den Haarsinneszellen sind diese Fortsätze mit Filamenten dicht gepackt, sodass sie derart versteift sind, dass sie nur noch relativ zur Zelle bewegungsfähig sind und sich um einen Ankerpunkt an der Zelle bewegen.

Zu dieser Steifheit der Stereozilien kommt noch ein zweites Organisationsprinzip, eine Anordnung der Stereozilien wie Orgelpfeifen. Diese Anordnung erlaubt es, die längeren Stereo­zilien mit den benachbarten kürzeren so zu ver­binden, dass bei einer Bewegung ein Eiweißfaden, der sich von dem kürzeren zu dem längeren Stereozilium erstreckt, entweder gespannt oder entspannt wird. Wird dieser Faden gespannt, so öffnen sich für im Wasser gelöste Ionen durchlässige Kanäle und damit wird der elektrische Zustand der Zellen verändert. Diese Veränderungen werden sodann an die die ­Haarsinneszelle innervierenden Neuronen weiter­gegeben und von diesen zum Gehirn geleitet (Abb.2).


Abb.2 Dieses Bild zeigt links die Haarsinnes­zelle der Cochlea (C in Abb.1). Zwei der drei ­Reihen von Fortsätzen (Stereozilien) sind rechts oben in zwei Positionen. Links (zyanfarben) ist ­eine Bewegung entgegen der Stimulierungsrichtung, rechts (grün) eine Bewegung in Stimulierungsrichtung gezeigt. Durch Schall werden diese Stereozilien in Richtung des lilafarbenen Pfeiles hin- und herbewegt. Durch diese Bewegungen werden die in Rot angezeigten Verbindungen des längeren mit dem kürzeren Stereoczilium ent­weder entspannt (zyanfarben) oder gespannt (grün). Dadurch werden Poren an der Spitze des kürzeren Stereoziliums entweder geöffnet oder geschlossen. Dies bewirkt eine Veränderung des elektrischen Zustandes der Haarsinneszelle (lilafarbene Kurve, unten rechts). Die elektrische Aktivität einer Haarsinneszelle wird also durch die Hin- und Herbewegung der Stereo­zilien bestimmt, wobei die Bewegungsgeschwindigkeit direkt an die Frequenz des Tones ankoppelt, während der Grad der Auslenkung die Lautstärke widerspiegelt. Als Folge dieser Stimulierungen kann es zum altersbedingten Verlust von Haarsinneszellen kommen (siehe Abb.3). Schon eine Bewegung von einem tausendsten Millimeter – was oft weniger ist als die Dicke eines Kopfhaars – kann zu einer elek­trischen Veränderung führen, die als Reiz wahrgenommen wird.

Haarsinneszellen nehmen in den ­verschiedenen Organen ­Bewegungen mit unterschiedlicher ­Geschwindigkeit wahr

Das Innenohr besitzt also Haarsinneszellen, die mechanische Energie in elektrische Signale umwandeln. Diese Signalumwandlung transformiert ortsspezifisch Signale mit verschiedenen Frequenzen. So kann z.B. das Gehörorgan beim Menschen Geräusche mit Frequenzen zwischen 20 und 20.000 Schwingungen pro Sekunde (Hertz; Hz) wahrnehmen. Die höheren Frequenzen um 20.000 Hz entsprechen in etwa dem Fiepen von Mäusen. Diese verschiedenen Frequenzen werden alle entlang des Hörorgans wahrgenommen, und zwar so, dass die höchs­ten Frequenzen am einen Ende und die tiefsten Frequenzen am anderen Ende wahrgenommen werden.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Hören sowie alle anderen Sinneswahrnehmungen des Ohres sich dadurch auszeichnen, dass verschiedene Haarsinneszellen Bewegungen unterschiedlicher Geschwindigkeit wahrnehmen. Derzeitige Daten über den altersbedingten Verlust von Haarsinneszellen lassen sich mit der Bewegungsgeschwindigkeit der Stereozilien ver­knüpfen.

Im Gehörorgan sterben Haarsinneszellen, die höhere Frequenzen wahrnehmen, vor denje­nigen ab, die tiefere Frequenzen wahrnehmen. Dies führt zu dem altersbedingten Hörverlust der hohen Frequenzen. Gleichgewichtshaarsinneszellen sterben in der Regel langsamer ab als die des Gehörorgans mit einer Verzögerung um etwa zehn Jahre. Innerhalb der Gleichgewichtsorgane sterben Haarsinneszellen in den rotationsempfindlichen Organen früher ab als die der Schwerkraftsinnesorgane. Erstere zeichnen sich auch durch schnellere Bewegung im Vergleich zu den Letztgenannten aus.

Bewegungsbedingte Stoffwechselüberforderungen als mögliche Ursache für das Absterben der Haarsinneszellen

Das altersbedingtes Absterben von Zellen hat im Prinzip eine für jede Zelle spezifische Ursachenkette, die von genetischer Disposition bis zum akuten Vergiften durch Chemikalien reichen kann. Hier wollen wir nur die mögliche Bedeutung der durch Bewegung erzeugten molekularen Veränderungen in Betracht ziehen, was jedoch andere Ursachen nicht ausschließt, sondern diese als zusätzliche Beschleunigungen des Altersprozesses einschließt.

Gehen wir für diese Betrachtungen zurück zu unserer Haarsinneszelle und den Stereozilien. Stellen wir uns vor, dass in einer Haarsinneszelle die Stereozilien mit einer Frequenz von 100 Hz hin und her bewegt werden. In jeder Minute werden damit in der einen Zelle 6.000-mal die Stereozilien hin- und herbewegt. In 60 Jahren addiert sich dies zu der unglaublichen Zahl von 189.216.000.000 Bewegungen. Im Gegensatz hierzu würde eine andere Haarsinneszelle, die 10.000 Hz wahrnimmt, über den gleichen Zeitraum 18.921.600.000.000 Bewegungen der Stereozilien durchmachen. Bedeutend ist hier, dass der Stress an der Zelle, die die höhere Frequenz wahrnimmt, immer um drei Stellen höher ausfällt.

So wie Nervenzellen im Gehirn werden auch Haarsinneszellen früh gebildet und nicht erneuert. Das bedeutet, dass jede Haarsinneszelle mit den durch die verschiedenen Frequenzen erzielten zellulären Verschleiß­erscheinungen eigenständig fertigwerden muss. Dies beinhaltet, dass durch die Bewegung gestörte Eiweiße erkannt, abgebaut und durch neue ersetzt werden müssen – und dies mit circa tausendfach erhöhter Geschwindigkeit bei Zellen, die höhere Frequenzen wahrnehmen. Diese physikalischen Bedingungen führen zu der Einsicht, dass höhere Frequenzen auch höheren Verschleiß bedingen. Insgesamt kann man diese Betrachtungen so zusammenfassen, dass Haarsinneszellen in einem Stoffwechseldilemma stecken, das über Jahre hinweg diejenigen Zellen am stärksten schädigt, die die höchsten Belastungen haben, also durch hohe Frequenzen am meisten stimuliert werden.

Haarsinneszellverlust kann durch überstarke Reizungen ausgelöst werden

Während Frequenzen nur kumulative Effekte erzeugen, können sehr starke Reizungen direkt schädigen. Wenn zum Beispiel unser Ohr ungeschützt einem startenden Düsenflugzeug ausgesetzt ist, so werden Haarsinneszellen durch den hohen Schalldruck überreizt und sterben ab. Auch ein lauter Knall oder überlaute Musik kann zum Verlust führen. Ob wir eine Schwelle haben, bei der bei Überreizung keine negativen Effekte auftreten, ist unklar. Allgemein scheint bei normaler Lautstärke eine einfache Addition von Frequenzen und Intensität vorzuliegen. Im Gegensatz zum Auge, das man schließen kann, kann man sich nur gezielt durch Ohrstöpsel dem Lärm entziehen. Ob das Tragen von Ohrstöpseln den Hörverlust abschwächen kann, ist umstritten.

Diese Befunde zeigen, dass in der Tat Stimulierungen das Absterben von Haarsinneszellen verursachen können. Was man nun verstehen muss, ist, wie die dauernde Stimulierung, gepaart mit zeitweiser Überstimu­lierung, letztendlich dafür sorgt, dass das Selbsterhaltungspotenzial einer Haarsinneszelle überschritten wird. Offensichtlich spielen hierbei höher frequente Stimulierungen eine weitere bedeutende Rolle, auch wenn im Detail unklar ist, wie solch dauerhafte Stimulierungen letztendlich den Stoffwechsel überziehen.


Abb.3 Diese rastermikroskopische Aufnahme zeigt die vier Reihen von Haarsinneszellfortsätzen im Hörorgan einer acht Monate alten Maus. Unten ist die Orgelpfeifenanordnung der ­Stereozilien der inneren Haarsinneszellen in einer Reihe angeordnet (I), oben sind die drei Reihen der äußeren Haarsinneszellen mit den dünneren und anders angeordneten Stereozilien zu sehen. Die lilafarbenen Pfeile zeigen auf Stellen, an denen Haarsinneszellen abgestorben sind. Mit forstschreitendem Alter sterben immer mehr dieser Haarsinneszellen ab, bis die Funktionsfähigkeit des Hörorgans eingeschränkt ist. Der Balken gibt 0,01mm an.

Ich höre nicht mehr und kann auch mein Gleichgewicht nicht halten! Was kann ich tun?

Derzeitige Bemühungen zielen darauf, die Haarsinneszellen zu regenerieren, doch diese Versuche sind noch in frühen Stadien [3]. Dagegen existieren schon technische Hilfen, die auch bei Totalverlust des Hörens eingesetzt werden können. Solche Apparate können direkt ins Ohr implantiert werden und erregen dann die Nervenbahnen direkt, um dem Gehirn Schall oder Bewegung vorzuspielen. Diese in das Hörorgan oder Gleichgewichtsorgan eingebauten Elektroden sind vor allem für totalen Hörschaden zum Teil äußerst erfolgreich, sind aber auf keinen Fall mit natürlichem Hören vergleichbar und sollten nur als letzte Hilfe betrachtet werden. Klar ist, dass es viel besser ist, die Haarsinneszellen zu behalten, was allerdings bei dem zunehmenden Alter der Weltbevölkerung nicht einfach sein wird. Die Weltgesundheitsbehörde geht deshalb davon aus, dass es im Jahre 2030 bis 950 Mio. Schwerhörige weltweit geben wird und dass sich die Kosten von Stürzen, die durch einen defekten Gleichgewichtssinn verursacht werden, auf etliche Milliarden erhöhen werden. ­Zudem wird mit erhöhtem Alter nicht nur der Gleichgewichtssinn schlechter. Stürze führen mit zunehmendem Alter zu immer stärkeren Brüchen mit immer schlechterer Prognose. Die kleinen Zellen im Ohr sind also gerade für das fortschreitende Alter wichtig, um unsere soziale Einbindung durch Gespräche zu ermöglichen, aber auch, um uns im wahrsten Sinne des Wortes den aufrechten Gang zu bewahren.

Literatur
[1] Fritzsch, B. et al. (2013) Evo. & Devo. 15, 63–79
[2] Fritzsch & Straka, H. (2014) J Comp Phys A 200, 5–18
[3] Zine, A. et al. (2014) in: Kursad (ed) Adult Stem Cells, 111?–161

Bild: © istockphoto.com| friztin

Stichwörter:
Haarsinneszellen, Innenohrsinnes, morphologische Entwicklungskette, Organisationsprinzip, Stereo­zilien, Signalumwandlung, Hertz, Frequenzen, Gleichgewichtshaarsinneszellen, Schwerkraftsinnesorgane, Stoffwechseldilemma, Haarsinneszellverlust, Weltgesundheitsbehörde, rastermikroskopische Aufnahme,

L&M 8 / 2014

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 8 / 2014.
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