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Forscher > Prof. Dr. Manfred Gahr > Geschlechtsunterschiede im Verhalten und im Gehirn

Geschlechtsunterschiede im Verhalten und im Gehirn

Sex im Gehirn

Geschlechtsunterschiede im Verhalten sowie in sensorischen und kognitiven Leistungen sind aus allen Wirbeltiergruppen, den Menschen eingeschlossen, bekannt. Obwohl die ersten Geschlechtsunterschiede im Gehirn von Wirbel tieren erst 1969 von G. Raisman und P.M. Field entdeckt wurden, gibt es inzwischen mehrere tausend Publikationen, die „Sex im Gehirn“ auf allen Organisa tionsniveaus, sei es in der Größe von Gehirnarealen, der Neuronenzahl von Arealen oder zellulärer oder molekularer Komponenten von Neuronen, bei Arten aller Wirbeltierklassen beschreiben. Allerdings ist die funktionelle Be deutung dieser Strukturunterschiede von männlichen und weiblichen Gehirnen nur schwer fassbar und die Entwicklungsmechanismen, die diese Unterschiede hervorbringen, sind erst in Anfängen verstanden.

Erfolgsmodell Singvogel

Im Zentrum unserer Forschung stehen die sexuelle Differenzierung des Gehirns und damit jene Mechanismen, die bei der geschlechtsspezifischen Entwicklung des Gehirns eine Rolle spielen. Weiterhin interessieren wir uns für die Bedeutung von intra- und inter-sexueller Variabilität in der Ausbildung von Gehirnteilen hinsichtlich der Partnerwahl und des Fortpflanzungserfolgs. Diese neuralen Mechanismen untersuchen wir bei Singvögeln, eine der erfolgreichsten Wirbeltiergruppen, zu der etwa die Hälfte aller lebenden Vogelarten gehören. Partnerwahl und Fortpflanzungserfolg sind bei Singvögeln maßgeblich vom Gesang beeinflusst: Männchen werben mit ihrem Gesang um die Weibchen, Weibchen wiederum wählen ein Männchen nach der Güte seines Gesangs aus. Dabei spielt Lernen sowohl bei der Gesangsentwicklung als auch bei der Bevorzugung von Gesängen eine wesentliche Rolle. Unsere wesentlichen Modelle zur Untersuchung der sexuellen Differenzierung von Gehirn und Verhalten sind der Gesang des Zebrafinken und des Kanarienvogels.

Hormone, Genetik und Sex im Hirn

Geschlechtshormone, insbesondere Testosteron und dessen androgener Metabolit 5?-Dihydrotestosteron und östrogener Metabolit 17?-Östradiol, haben einen enormen Einfluss auf die Entwicklung und das Auftreten von geschlechtsspezifischen Verhaltensmustern. Z.B. lässt sich in vielen Wirbeltierarten männliches Verhalten durch Kastration reduzieren oder durch Testosteron bzw. anabole Steroide hervorrufen. Die geschlechtsspezifischen neuronalen Schaltkreise der Wirbeltiere sind allgemein durch die vorübergehende oder dauerhafte Expression von Rezeptorproteinen für Androgene und Östrogene charakterisiert. Diese Rezeptoren sind als Transkriptionsfaktoren in zahlreiche Differenzierungsprozesse eingebunden, die schließlich zur geschlechtsspezifischen Ausprägung des Gehirns führen. Natürliches Doping durch eine endogen- oder umweltbedingte drastische Erhöhung der Testosteronproduktion wirkt sich daher nicht nur auf die Muskelentwicklung aus, sondern auf das Gehirn. Die molekularen Mechanismen, die die für bestimmte Gehirnregionen spezifische Expression von Androgen- und Östrogenrezeptoren festlegen, sind unbekannt, aber hirnautonom. D.h., es gibt ein Zusammenwirken von genetischen, nicht hormonabhängigen und hormon- abhängigen Mechanismen, die zur geschlechtstypischen Ausprägung des Gehirns führen.

Hormone und das Gesangssystem

Die im Vogelreich begrenzte Verbreitung von Gesangslernen spiegelt sich im Aufbau des Gehirns der Vögel wider. Gesang lernende Gruppen haben Gehirnzentren, die den Gesang nicht lernenden Gruppen fehlen (Abb. 1). Diese Gehirnzentren, in der Summe als Gesangssystem bezeichnet, sind wesentlich für das Gesangslernen und die Produktion des gelernten Gesangs. Insbesondere sind die Gesangszentren durch die Expression von Androgenrezeptoren und, im Falle des HVC (Eigenname; ein zentrales Gesangszentrum) zusätzlich durch Östrogenrezeptoren, Zielgebiete von Sexualhormonen. Diese Rezeptoren sind während der Ontogenese und im Adultalter in Neuronen des Gesangssystems nachweisbar.
Daher können Testosteron und Östrogene die Differenzierung des Gesangssystems und dessen Funktionalität sowohl in der Entwicklung als auch im erwachsenen Vogel direkt modulieren. Die Entwicklung der Gesangzentren ist bei den Singvögeln durch Testosteron und Östradiol artunterschiedlich im Jugendalter und im Adultalter modulierbar. Dabei verändern diese Hormone in der Jugendentwicklung vor allem das langfristige Überleben der Nervenzellen, während im Adultalter vor allem der Phänotyp von Gesangsneuronen betroffen ist (Abb. 2). Behandeln wir Zebrafinkenweibchen, deren Gesangssystem sich normalerweise nicht entwickelt und die nicht singen, nach dem Schlupf mit Testosteron oder Östradiol, dann entwickelt sich das Gesangssystem teilweise und die Tiere können gesangsähnliche Vokalisationen hervorbringen. Überleben diese Nervenzellen, dann bilden sie molekulare Eigenschaften aus, die sie in der Summe als Gesangsneurone charakterisieren. Insbesondere bleiben sie im Erwachsenenalter sensibel für Testosteron, sodass morphologische und elektrophysiologische Veränderungen der Gesangsneurone im Adulttier möglich sind. Wie die Sexualhormone die Gesangsneurone dauerhaft oder transient verändern und wie die durch Testosteron hervorgerufenen Veränderungen der Gesangsneurone dazu führen, dass sich zeitlich befristet oder dauerhaft Meistersänger herausbilden, bleibt im Detail zu klären.

Vom Testosteron zum sexuell attraktiven Gesang

Ein Ansatz zur Untersuchung der Kausalkette von molekularer Hormonwirkung zur Gesangsphysiologie ist die Untersuchung von einschlägigen Kandidatengenen, z.B. von Neurotrophinen wie dem BDNF (brain derived neurotrophic factor). BDNF wird im HVC durch Testosteron (bzw. nach lokaler Aromatisierung durch Östradiol) vermehrt gebildet. Normalerweise singen erwachsene Kanarienvogelweibchen nicht, lassen sich aber durch Testosteronbehandlung innerhalb von 5–12 Tagen transient zum Singen bringen. Diese Weibchengesänge ähneln denen der Männchen in der Brutzeit. Dabei induziert Testosteron zunächst eine Zunahme des Vaskulärensystems, das dann östrogenabhängig BDNF freisetzt. Verhindert man die vaskuläre Wirkung des Testosterons durch die Blockade von VEGF (vascular endothelial growth factor)-Rezeptor-Funktionen, entwickeln die Tiere zwar eine Zunahme des HVC-Volumens, können aber nicht singen. Durch eine lokale Überexpression von BDNF im HVC kann diese Gesangsblockade überwunden werden; d.h. BDNF ist notwendig für das testosteroninduzierte Singen. Insbesondere fördert BDNF jene Gesangsmuster (die Anzahl verschiedener Gesangssilben und hohe Silbenwiederholungsraten), die, wenn von Männchen gesungen, sexuell attraktiv sind. Um nun weitere (unbekannte) Proteine aufzuspüren, die am hormoninduzierten Singen beteiligt sind, verfolgen wir einen zweiten Ansatz, die Analyse aller testosteron- und östrogenabhängigen Veränderungen in der Genexpression des HVCs. Aufbauend auf dem erst kürzlich sequenzierten Genom des Zebrafinken haben wir ein Exon-Microarray entwickelt, das wir für diese Analysen beim Zebrafinken und anderen Singvogelarten einsetzen. Exon-Microarrays haben gegenüber herkömmlichen 3’IVT Microarrays den Vorteil, dass jedes Gen durch Sonden, die über alle Exone eines Gens verteilt sind, repräsentiert ist. Dies verspricht eine erhöhte Sensibilität der Transkriptomanalyse, aber auch die Möglichkeit, Splice-Varianten eines Gens zu detektieren. Dazu werden zunächst mikroskopisch kleine Gewebeproben aus den Gesangszentren präpariert, was durch die außergewöhnlich gute anatomische Abgrenzbarkeit des Gesangssystems möglich ist (Abb. 3). Dann wird die mRNA aus diesen Proben isoliert und zur Hybridisierung mit den Exon-Arrays eingesetzt. Dieser Ansatz liefert beispielsweise neben der bereits bekannten Regulation von BDNF (siehe oben) mehrere hundert Gene, die östrogenabhängig im HVC reguliert werden. Aus diesem Pool können nun ausgewählte Kandidatengene, wie oben für BDNF skizziert, lokal und zeitlich befristet durch transgene Methoden im HVC manipuliert werden. Als Phänotypen untersuchen wir dabei die Anatomie der Gesangsneurone, deren elektrophysiologische Eigenschaften und das Gesangsverhalten der Tiere. Insbesondere der eindeutige Zusammenhang zwischen neuralen Gesangszentren und dem Gesang macht das Gesangssystem der Singvögel zu einem einflussreichen Modell der Verhaltensneurobiologie.

gahr@orn.mpg.de
wasmer@orn.mpg.de

Abb. 1 Das Gesangssystem der Singvögel (Gesang-Lerner)

Abb. 2 Geschlechtsunterschiede in der Größe des Gesangsareals HVC des Zebrafinken

Abb. 3 Herauspräparieren eines Gesangszentrums
aus Gehirnschnitten

L&M 5 / 2010

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 5 / 2010.
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