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Hierarchische antiadhäsive Oberflächen durch Nachahmung von Insektenfallen

Hierarchische antiadhäsive Oberflächen durch Nachahmung von Insektenfallen

Fleischfressende Pflanzen, Karnivoren, darunter die tropischen Kannenpflanzen Nepenthes spp., haben schon immer durch ihre bemerkenswerte Fähigkeit, die essentiellen Nährstoffe nicht nur aus dem Boden, sondern zusätzlich durch das Fangen von Tieren zu beziehen, fasziniert. Im letzten Jahrhundert standen viele Aspekte der Nepenthes-Biologie im Mittelpunkt von Feldstudien und vielen strukturellen und experimentellen wissenschaftlichen Arbeiten. Dabei war insbesondere die Fangeffizienz in Hinblick auf den Aufbau und die Funktionen der Fangorgane, den sogenannten Kannen, von Interesse.

Neben der rein biologischen Betrachtungsweise sind diese fleischfressenden Pflanzen in jüngster Zeit Modellorganismen für vielfältige biomimetische Fragestellungen. So beschäftigt sich das Zoologische Institut der Universität zu Kiel in einer engen Kooperation mit dem Institut für Chemie neuer Materialien der Universität Osnabrück mit der Entwicklung von hierarchischen antiadhäsiven Materialien durch die Erforschung und Nachahmung der Gleitzone von Nepenthes alata-Kannen.

Fangen und Behalten

Kannenförmige an den Rankenspitzen sitzende passive Fangorgane sind ein charakteristisches Merkmal für die Gattung Nepenthes (Abb. 1). Diese Kannen bestehen aus strukturellen und funktionellen Zonen, die für die jeweilige Aufgabe spezialisierte makro- und mikromorphologische Strukturen aufweisen. Schon früh wurde erkannt, dass eine dieser Zonen, die im oberen Teil der Kanneninnenseite gelegene weißlich schimmernde Gleitzone (Abb. 2), für das Einfangen der Insekten und als Fluchtbarriere von größter Bedeutung ist. Dabei sind die für das Abgleiten der Insekten verantwortlichen Strukturen, zum einem bestimmte mondförmige Zellen ( lunate cells) zum anderen eine epikutikuläre dreidimensionale Wachsschicht.

Effektive Antihaftung

Die von unserer Arbeitsgruppe in den letzten Jahren durchgeführten intensiven mikromorphologische Studien zeigten, dass bei dem Modellorganismus N. alata die Gleitzone aus drei deutlich differenzierbaren hierarchisch aufgebauten Ebenen besteht: [1] den anisotropen, nach unten gerichtete mondförmige Zellen, mit einer Größenordnung von mehreren Duzend Mikrometern, [2] der unteren Wachsschicht, aufgebaut aus einem Netzwerk von miteinander verbundenen mikroskopischen Wachskristallen und [3] der oberen Wachsschicht, die, zwar in gleicher Größenordnung, aber aus getrennten Wachskristallen besteht (Abb. 3). Jede dieser hierarchischen Ebenen unterliegt einem eigenen physikalischen Mechanismus und spielt somit eine individuelle Rolle in der Minimierung der Insektenhaftkraft.
Obwohl schon ein Jahrhundert zuvor Knoll das Potential der mondförmigen Zellen, die Verankerung der Insektenklauen zu verhindern, erkannte, konnte er mit Hilfe seiner Versuche keinen anisotropen Effekt auf die Insektenfortbewegung nachweisen. Mit einer kürzlich in unserer Arbeitsgruppe durchgeführten Studie ist es uns erstmalig gelungen, die durch die besondere Form und Verteilung der mondförmigen Zellen hervorgerufene Anisotropie nachweisen. Dafür wurden am Beispiel des Marienkäfers Coccinella septempunctata und der Modellpflanze N. alata Experimente auf Kannenoberflächen und deren Polymernachbildungen durchgeführt. Diese hatten zum Ziel die natürliche Bewegung des Insektes in die Kanne und aus der Kanne nachzuempfindenden und die Unterschiede zu beobachten. Die Ergebnisse dieser Untersuchung zeigten, dass die Marienkäfer in Richtung Kanneninneres nur die Klauen benutzen, dabei stellten die mondförmigen Zellen gute Verankerungsmöglichkeiten dar. Richtet sich die Bewegung jedoch nach oben zum Kannenausgang, wie es im Falle einer Flucht wäre, ist das Insekt nicht mehr in der Lage, seine Krallen aufgrund der nach unten gerichteten Kanten der mondförmigen Zellen zu nutzen. Zwei aufeinander liegende Wachsschichten, welche sich nicht nur in der Struktur und der chemischen Zusammensetzung, sondern auch in den mechanischen Eigenschaften unterscheiden, bilden die zweite und die dritte hierarchische Ebene der Gleitzone. Die untere der beiden Schichten erinnert mehr an eine Art Schaum, der sich aus miteinander verbundenen, unter relativ steilen Winkel von der Oberfläche abstehenden Wachskristallen zusammen setzt und dazu relativ stabil ist. Die oberhalb liegenden einzelnen Kristalle der zweiten Ebene, sind nicht wie zuvor angenommen wie Dachziegel angeordnet, sondern weisen eine mehr oder weniger senkrechte Verbindung durch lange, schmale Stiele mit der unteren Ebene auf, die bei Belastung leicht brechen. Zwar bestehen die Wachse beider Hierarchieebenen aus den gleichen chemischen Klassen, dennoch sind das Komponentenverhältnis und die Verteilung der Kettenlängen der aliphatischen Verbindungen unterschiedlich. Beide Wachsschichten besitzen zudem sehr stark wasserabweisende Eigenschaften (Abb. 4). Kontaktwinkelmessungen der Wachsstrukturen zeigten, dass beide Oberflächen mit polaren Flüssigkeiten wie Wasser oder Ethylenglykol gleichermaßen nahezu unbenetzbar sind. Bei Messungen mit einer nicht-polaren Flüssigkeit wie Diiodomethan (Kontaktwinkel jeweils >100) konnte jedoch ein signifikanter Unterschied zwischen den Wachsschichten festgestellt werden. Während beim Vergleich von unstrukturierter Wachssubstanz ähnliche Materialeigenschaften, wie Elastizitätsmoduls und Härte, gemessen wurden, zeigte sich die untere Wachsebene bei natürlicher Strukturierung härter und steifer als die darüber liegende. Zusätzlich waren die Kristalle der oberen Ebene brüchiger und lösten sich somit leichter von der Oberfläche oder zerbrachen in kleine Fragmente.

Marienkäfer im Krafttest

Beide Hierarchieebenen scheinen die Besonderheit inne zu haben, die Haftung von Insekten zu minimieren. Um dies zu bestätigen wurden mit zwei Marienkäferarten Adalia bipunctata und Coccinella septempunctata Zugversuche durchgeführt, bei denen die auftretenden Kräfte auf verschiedenen Substraten während der Fortbewegung gemessen werden. Hierbei konnte gezeigt werden, dass die Zugkraft auf den epitikulären Wachsoberflächen im Vergleich zu denen auf ihren Polymernachbildungen, sowie den Glasreferenzflächen und den wachsfreien Kannen drastisch reduziert ist. Da interessanterweise kein Unterschied zwischen den Wachsschichten untereinander zu verzeichnen war, scheinen beide Hierarchieebenen zum gleichen Grad ein Hemmpotential auf die Insektenhaftung zu besitzen. Dieser Hemmeffekt wird durch die kleine Größenordnung und die spröde, brüchige Natur der Kristalle erzielt, die den Insektenkrallen keine Möglichkeit geben sich an der Kannenoberfläche zu verankern. Genauere Untersuchungen der neben den Krallen auf den Insektenfüßen befindlichen Haftorgane, auch Haftpolster genannt, zeigten außerdem, dass diese nach dem Kontakt mit der oberen Schicht durch Wachs kontaminiert waren (Abb. 5), wogegen die untere Ebene keine Verschmutzungen der Haftpolster verursachte. Zusammengefasst ist anzunehmen, dass die Reduzierung der Haftpolsterhaftkraft ein Zusammenspiel von mehreren unterschiedlich arbeitenden Mechanismen darstellt: zum einem der Minimierung der realen Kontaktfläche durch die Mikrorauheit (untere Wachsschicht), zum anderen der Verschmutzung durch Abbrechen von Wachskristallfragmenten (obere Wachsschicht).
Die genauen adhäsiven Eigenschaften der beiden Wachsschichten wurden kürzlich mit Hilfe einer neu entwickelten Methode zur Adhäsionsmessung von antiadhäsiven Oberflächen untersucht. Hierbei wurden klebrige Halbkugeln aus Polydimethylsiloxan als Messsonden für Haftmessungen auf beiden Wachsschichten und Polymeroberflächen verwendet. Um die natürliche Situation nachzubilden, wurden für die Polymerreferenzen pflanzenähnliche Rauheitsparameter gewählt, sowie ein einem kleinen Insekt entsprechender Druck ausgeübt. Unter den pflanzlichen und künstlichen Proben konnte auf der oberen Wachsschicht die geringsten Haftkräfte gemessen werden. Wie auch bei den Zugversuchen wurde hier eine Verschmutzung der Halbkugeln nur durch die oberen Wachskristalle beobachtet, wobei die übrigen Oberflächen keine Kontaminierung durch abgelöste Partikel aufwiesen.

Neue antiadhäsive künstliche Oberflächen

Die komplexe Struktur der N. alataKannen soll auf künstliche biomimetische antiadhäsive Oberflächen übertragen (Abb. 6) und für technische Anwendungen nutzbar gemacht werden. Biomimetische Antiadhäsionsoberflächen könnten besonders geeignet sein, um Staub, klebrigen Schmutz und Insekten abzuweisen. Ein zu lösendes Problem ist die im technischen Maßstab erforderliche Aufskalierung der Herstellungsprozesse für die kostengünstige Hochdurchsatzproduktion biomimetischer antiadhäsiver Oberflächen. Da die Anisotropie des biologischen Modells für die meisten technischen Anwendungen nicht benötigt wird, geht ein vielversprechender Ansatz für die Herstellung eines künstlichen Analogons der ersten Hierarchieebene des biologischen Modells von geordneten Monolagen aus Mikrokugeln mit Durchmessern wenigen Mikrometern bis zu einigen zehn Mikrometern aus. Dazu haben wir zunächst ein Verfahren zur Hochdurchsatznachbildung der geordneten Mikro kugelMonolagen entwickelt: Eine große Anzahl von MasterFormen ist durch einen zweistufigen Replikationsprozess aus einer einzigen Mikrokugel-Monolage zugänglich, die allerdings selber zerstört wird.
Jedoch kann jede Master-Form wiederum vielfach abgeformt werden. Als Ergebnis werden antiadhäsive Oberflächen aus fest mit einem Substrat verbundenen Kugeln erhalten, die herausragende mechanische Stabilität besitzen (Abb. 7). Derartige Strukturen sind geeignet, die für die Adhäsion entscheidende Kontaktfläche zwischen der biomimetischen antiadhäsiven Oberfläche und jeder Art von Gegenstück, ob weich oder spröde, zu minimieren. Gegenwärtig werden mehrere Typen hierarchischer Oberflächentopografien hinsichtlich ihrer Antihafteigenschaften an starren und elastischen Gegenflächen getestet. Darüber hinaus wird die Nachbildung der biologischen Hierarchieebenen 2 und 3 vorbereitet. Hierarchieebene 2 soll einerseits durch Aufprägung einer Nanostrukturierung auf die Oberflächen der Mikrokugeln mittels nanoporöser Aluminiumoxidmembranen, die durch spezielle Anodisationsverfahren zugänglich sind, implementiert werden. Andererseits sollen Nachbildungen der Mikrokugeln mit nanoporösen Materialien, die eine bikontinuierliche Morphologie besitzen, durch Verwendung von auf Phasenseparationsprozessen beruhenden Verfahren hergestellt werden. Ebene 3 wird durch Verteilung wachsartiger Nanostäbchen, die unter Verwendung der oben genannten nanoporösen Aluminiumoxidformen hergestellt werden, auf Kombinationen der biomimetischen Hierarchieebenen 1 und 2 realisiert.

Diese Arbeit wurde teilweise von der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG (Schwerpunktprogramm 1420 „Erforschung Biomimetischer Materialien: Funktionalität durch Hierarchische Strukturierung von Materialien“ Forschungsstipendien GO 995/9-1, GO 995/9-2, STE 1127/12-1 und STE 127/12-2) unterstützt.

Literatur

E. Gorb, K. Haas, A. Henrich, S. Enders, N. Barbakadze, S. Gorb (2005) Composite structure of the crystalline epicuticular wax layer of the slippery zone in the pitchers of the carnivorous plant Nepenthes alata and its effect on insect attachment. J. Exp. Biol. 208: 4651 – 4662

E. Gorb, S. Gorb (2009) Functional surfaces in the pitcher of the carnivorous plant Nepenthes alata: A cryo-SEM approach. In: Functional surfaces in biology, Vol. 2, edited by S. Gorb, Dordrecht, Heidelberg, London, New York: Springer, 205 – 238

E. Gorb E., S. Gorb (2011) The effect of surface anisotropy in the slippery zone of Nepenthes alata pitchers on beetle attachment. Beilstein J. Nanotechnol. 2: 302 – 310

M.J. Benz, E.V. Gorb, S.N. Gorb (2012) Diversity of the slippery zone microstructure in pitchers of nine carnivorous Nepenthes taxa. Arthropod-Plant Interactions 6: 147 – 158.

G.T. Rengarajan, L. Walder, S.N. Gorb, M. Steinhart (2012) High-throughput generation of micropatterns of dye-containing capsules embedded in transparent elastomeric monoliths by inkjet printing. ACS Appl. Mater. Interf. 4: 1169 – 1173.

Foto: © Prof. Dr. Stanislav Gorb

L&M 7 / 2012

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 7 / 2012.
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