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L&M-5-2010 > Hintergrund, Physik und Materialwissenschaft der Kryobestattung

Hintergrund, Physik und Materialwissenschaft der Kryobestattung

Seven steps to heaven

Sterben müssen wir alle. Die Art der Bestattung allerdings obliegt unserer Wahl. Neben Erd- und Feuerbestattung wird auch die Kryobestattung angeboten. Dabei wird der Leichnam in flüssigem Stickstoff glasig erstarrt und anschließend zu Granulat zertrümmert, das anschließend gefriergetrocknet wird. Als molekular intaktes Biomaterial kann es unter Bäumen kompostieren. Das Reizvolle – zumindest für Naturwissenschaftler – an dieser Methode sind auf jeden Fall die vielen Prozesse der Materialphysik, die post mortem auf die Verstorbenen zukommen.

Sterbliche Überreste und Biomaterial

Ist das genetische Lebensprogramm erst einmal abgelaufen, geht es rasch dem Ende entgegen. Vor dem Tod gibt es kein Entrinnen. Was von uns letztlich, abgesehen von geschaffenen Werten und vielen Erinnerungen, bleibt, ist nichts weiter als durchschnittlich 70 kg Biomasse aus Wasser, einer Vielzahl von unterschiedlichen Proteinen, Fetten, Membranlipiden, eingelagerten Metallionen, Salzen und noch ein paar Kleinigkeiten mehr. Andererseits eine ganze Menge, umschreiben diese Begriffe doch die wichtigsten molekularen Vertreter des Forschungsgebiets der biologischen weichen Materie [1]. Im Trauerfall erscheint diese eher nüchterne Betrachtung der sterblichen Überreste fehl am Platz, dennoch gehört es zu den Pflichten der Hinterbliebenen, dieses Biomaterial rasch zu entsorgen. Leichen auf Friedhöfen zu begraben ist zwar mit unserer kulturell verankerten Tradition nach einem ehrfürchtigen Gedenken an die Verstorbenen zu vereinen, aber andererseits tritt immer häufiger der Wunsch nach einer ökologisch korrekten Bestattung zutage, die sich mit Würde und angemessenem Totenkult vereinbaren lassen muss.
Mit wachsender Verantwortung für das Klima wird selbst die gegenwärtig häufig gewählte Methode des Verbrennens infrage gestellt. Nach der Karbonisierung des organischen Materials verbleiben Asche, gasförmigeOxide und natürlich das als Treibhausgas in Verruf gekommene Kohlendioxid. Selbst bei idealen Bedingungen sprich hohen Temperaturen und optimierter Sauerstoffzufuhr, wie sie moderne Krematorien gewährleisten, lässt sich ein Schadstoffausstoß kaum unterbinden. Andererseits ist die Verbrennung nicht die einzig mögliche Umsetzung des christlichen Fundamentalprinzips der Genesis: „Gedenke, oh Mensch, dass du aus Staub bist und zu Staub wieder zurückkehrst.“ (Kapitel 3,19) Der Weg zum Staub ist allerdings lang, denn ein gemeinsames Problem aller Bestattungsmethoden ist das Wasser, das etwa 70 % des Leichengewichts ausmacht. Für die Erdbestattung ist Wasser Grundlage der Fäulnis. Bei der Feuerbestattung muss es durch einen hohen Energieaufwand erst verdampft werden, bevor die Karbonisierung eintreten kann.
Es gibt aber Möglichkeiten, das Wasserproblem auf andere Weise zu lösen, denn seit einiger Zeit wird ein Hightechverfahren eines schwedischen Bestattungsunternehmens angeboten, das modernste Kryotechnik- mit Vakuumtrocknungsmethoden kombiniert. Die dabei anfallenden Überreste sind mehr als Asche: gefriergetrocknetes, amorphes Leichenpulver, das in Böden schnell und rückstandsfrei kompostiert werden kann.

Der Schock der Kälte

Naturgemäß erfordert die Kryobestattung mehrere Schritte. Der erste folgt dem herkömmlichen Schema. Der Leichnam wird in einen Sarg gelegt und um die bei der Erdbestattung notwendige Fäulnis zu vermeiden, wird der Leichnam – wie manch frisch gekaufter Sonntagsbraten zur späteren Verwendung – bei –18 °C für eine gewisse Zeit eingefroren. Das körpereigene Wasser friert dabei zu Eiskristallen und chemische Reaktionen und biologische, enzymatische Verfallsprozesse verlangsamen sich dabei dramatisch. In einem zweiten Schritt wird der Leichnam samt Sarg in flüssigen Stickstoff getaucht, dessen Temperatur von –196 °C als Schockfroster dient. Bei Leichen hat er eine ganz besondere Aufgabe. Die bereits eingefrorenen Totenkörper werden dadurch noch weiter abgekühlt. Es mag auf ersten Blick vollkommen unsinnig erscheinen, bereits eingefrorene organische Materialien noch weiter zu frosten. Allerdings ist dies für die Kryobestattung allein aus physikalischen Gründen unverzichtbar. Dazu müssen wir uns in der dritten Stufe einen kleinen Ausflug in die molekulare Welt gestatten. Muskelfasern, Bindegewebe und Knochenmaterial bestehen letztlich aus den verschiedensten Proteinen und diese sind nichts anderes als lange, kettenförmige Moleküle. Dazwischen befinden sich noch, je nach vorausgegangenem Lebensstil, Fette und andere kleine Moleküle als „Lösungsmittel und Weichmacher“. Wie bei allen Materialien bestimmt die Molekülbewegung deren Elastizität und somit die Beweglichkeit des ganzen Körpers [2,3]. Je stärker sich die Moleküle bewegen können, desto deformierbarer und elastischer ist der ganze Materialkörper. Selbst bei –18 °C bewegen sich diese Moleküle noch kräftig hin und her.

Der Glasübergang der Leiche

Durch weitere Absenkung der Temperatur während des Frostens im flüssigen Stickstoff wird aber dieses Molekülgewackel noch weiter eingeschränkt, bis bei sehr tiefen Temperaturen die Moleküle fast unbeweglich erscheinen. Die sichtbare Folge ist so dramatisch wie simpel: Die Körper werden extrem spröde und brechen wie Glas.
Ein kleines Experiment zeigt dies. Ein flexibler und dehnbarer Gummischlauch wird nach dem Eintauchen in flüssigen Stickstoff hart und spröde. Kein Wunder, denn wie soll sich Gummi dehnen lassen, wenn dessen Moleküle starr auf ihren Plätzen verharren? Physiker sprechen daher vom „Glasübergang“ [3]. Schlägt man dann mit einem Hammer auf den so verglasten Schlauch, zerbirst dieser in viele kleine Trümmer. Wie Fensterglas. Der Stickstoffbestatter unterzieht also den Leichnam einem Glasübergang. Der tote Körper „erstarrt glasig“ und wird dabei spröde. Somit ergibt sich die vierte Stufe von selbst. Am Leichnam wird im glasigen Zustand mit wohl definierten Kräften, Auslenkungen und Frequenzen gerüttelt. Der spröde Körper zerspringt dabei weitgehend. So bleibt nichts weiter übrig als ein Granulat.

Wasserentzug durch Gefriertrocknen mit anschließender Reinkarnation

Im fünften Schritt wird dieses Granulat gefriergetrocknet [4]. Hierbei wird dem organischen Pulver unter Vakuum das Wasser entzogen. Während dieses Prozesses sublimiert das Wasser vollständig. Aus Eis wird Dampf – eine flüssige Phase wird vermieden. Das Granulat wird somit staubtrocken. Der sechste Schritt ist wieder profaner. Das trockene Pulver muss noch von metallischen Rückständen – etwa Prothesen, Zahnersatz und dergleichen – mithilfe von Sieben und Metallabscheidern befreit werden. Schon reduzieren sich die Lebensspuren dabei auf etwa 25 kg organisches Trockenpulver in kompostierbarer Zusammensetzung. Im siebten und letzten Schritt können die gereinigten, gefriergetrockneten und vollkommen geruchsfreien sterblichen Überreste begraben werden. Sinnigerweise schlagen die Stickstoffökobestatter dazu einen kleinen Sarg aus Mais- oder Kartoffelstärke vor, der praktisch klimaneutral innerhalb eines Jahres vollkommen verrottet. Einer „Reinkarnation“ auf molekularer Ebene steht nichts mehr im Wege und die über das Grab gepflanzten Rosen recken sich, human-biodynamisch gedüngt, stramm gen Himmel. Abgesehen von der spannenden Wissenschaft um die Kryobestattung mag dies für viele ein tröstlicher Gedanke sein.

Fazit

Die Methode der Kryobestattung ist eine faszinierende Anwendung moderner Methoden der Materialforschung. Andererseits sind viele Prozesse auf molekularer Ebene noch nicht verstanden, sodass sich der Ablauf noch optimieren ließe.

vilgis@mpip-mainz.mpg.de

Abb. 1: SiO2 Fensterglas, kristalline vs. amorphe Struktur. Die Anordnung der Atome ist in amorphen Strukturen nicht regelmäßig. Die Atom- und Molekülpositionen entsprechen einer „eingefrorenen Flüssigkeit“. Aus der dadurch sehr eingeschränkten Moleküldynamik ergibt sich immer ein sehr sprödes Bruchverhalten. Gläser brechen leicht.

Abb. 2: Der Glasübergang bei langen kettenförmigen Molekülen: Die Moleküle können sich bei hohen Temperaturen auf großen Skalen bewegen, wie etwa durch die dicke „Röhre“ angedeutet. Im eingefrorenen Zustand ist dies nicht mehr der Fall, die „Röhre“ wird immer enger, die Ketten unbeweglicher. Das Material wird dabei spröde, denn die eingebrachte Energie, etwa durch hochfrequente Deformationen, kann nicht mehr schnell genug „dissipieren“, d.h. von der Umgebung aufgenommen werden. Schnelle Deformationen, ausgelöst durch bestimmte Frequenzen in einer externen Bewegung, bringen das Material daher zum Brechen.

Literatur:

[1] Glaser, R. (2004). Biophysics: An Introduction, Springer, Berlin, Heidelberg, Wien
[2] Matsuoka, S. (1976) Advances in Chemistry, 154, 1-7
[3] Elliott, S.R. (1983) “Physics of Amorphous Materials”, London: Longman Group Ltd
[4] Rey, L., May, JC (2004) eds. “Freeze drying/Lyophilization of Pharmaceutical and Biological Products” Marcel Dekker, New York.

L&M 5 / 2010

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 5 / 2010.
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