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Mit Ballistosporen auf Entdeckungsreise

Mit Ballistosporen auf Entdeckungsreise

Schießende Hefen

Wer etwas Neues entdecken will, tut es am besten so manchem Wanderer gleich. Er geht nicht den Hauptweg, den die meisten wählen, sondern einen ­mitunter gar nicht so einladenden Trampelpfad. Bei wissenschaftlichen Ent­deckungen ist es ähnlich. Entweder man schließt sich einem Thema an, das schon von anderen Autoren bearbeitet wurde, das ­wirtschaftlich relevant ist und dadurch auch gefördert wird. Oder man geht den individuellen Weg, der einem die Natur entdecken hilft, ohne dabei dem Entdeckten einen Wert ­zuzuordnen – und das natürlich ohne Förderung.

„Kunst und Wissenschaft haben einen gemeinsamen Auftrag: das Überraschende im Gewöhnlichen zu ­entdecken, indem sie es aus einem unerwarteten Blickwinkel betrachten.“ Howard Bloom

Ob ein Hauptweg so einfach zu den „Schießenden Hefen“ geführt hätte? Wer auf En­tdeckungsreise geht, braucht vor allem zweierlei: Ideen und Geduld. Es stellt sich nämlich die Frage: „Was gäbe es denn – zumindest einmal theoretisch – überhaupt zu entdecken?“

Spekulatives und Sensationelles

Die Entstehung des Lebens lässt viel Raum für Spekulationen. Ob das Leben einmalig, zwangsläufig oder mehrmals unabhängig entstanden ist, ist eine mögliche Spekulation. Es muss auch nicht auf der Basis linkshändiger Aminosäuren, rechtshändiger Zucker und einer rechtsgängigen DNA-Doppelhelix aufgebaut sein. Das war die Idee von Paul Davies. Paul Davies ist theoretischer Physiker, Kosmologe und Astro­biologe. Ein solchermaßen spiegelbildliches Lebe­wesen zu finden, ist nicht so schwer – vorausgesetzt, die diesbezügliche Idee ist vorhanden. Man bereitet eine Nährlösung, die nur aus hochreinen Substanzen verkehrter Händigkeit aufgebaut ist. Und siehe da: Tatsächlich vermehrte sich eines Tages in diesem Medium ein Organismus, einer von vielen, aus dem Sediment eines kalifornischen Sees. Er erhielt den Namen Anaerovirgula multivorans. Es stellte sich dann zwar heraus, dass es sich bei Anaerovirgula multivorans um ein ganz normales Lebewesen handelt, das offenbar Substrate mit verkehrter Händigkeit so umwandeln kann, dass diese verwertet werden können. Die Idee führte zwar nicht zu dem erhofften „Schattenlebewesen“, aber trotzdem zu einer wissenschaftlichen Sensation. Anaerovirgula multivorans wäre vielleicht heute noch ohne Namen und somit unentdeckt im Schlamm eines kalifornischen Sees verborgen.

Entdeckungsreise im Alltag

Als Entdecker muss man sich aber nicht immer nur in derartigen Sphären bewegen. Unser alltägliches Umfeld tut es auch. Eines Tages überreichte mir Frau Mag. med. vet. Agathe Pfeifer einen Becher Löffelsahne. Das Ablaufdatum mutete schon fast steinzeitlich an. Das Milchprodukt wurde von ihrer Mutter im Kühlschrank einfach vergessen, was jedem von uns passieren kann. Beim Öffnen fielen ihr ein großer roter und ein kleinerer orangefarbener Fleck auf. Agathe Pfeifer und ihre Mutter kennen als Anhänger der Bacterio­graphie meine künst­lerisch-wissenschaftlichen Ambitionen, darum wurde mir der Becher mit dem verdorbenen ­Inhalt überlassen und nicht, wie sonst üblich, weggeworfen.Das war der Beginn einer interessanten Entdeckung. Der orangefarbene Fleck entpuppte sich schnell als Bakteriengattung. Mein Interesse galt aber dem Verursacher des großen roten Bereiches, hervorgerufen durch eine Hefegattung.

Raffinierte Ballistiker

Hefen sind einzellige Pilze, die sich durch Sprossung oder Teilung vermehren. Sie gehören zu den kleinsten eukaryotischen Organismen. Die Zellen der Backhefe Saccharomyces cerevisiae messen gerade einmal 5 bis 10µm. Einige Hefepilze haben einen raffinierten Expansionsmechanismus entwickelt. Wir alle kennen die Verbreitungsform der Samen des Drüsigen Springkrautes (Impatiens glandulifera), das als invasiver Neophyt vielerorts bekämpft wird. Es ist kaum vorstellbar, dass auch einige Hefegattungen in der Lage sind, ihre Sporen weit durch die Luft zu schleudern. Als Beispiel führe ich die Gattung Sporobolomyces an, die als Besiedler der so genannten Phyllospäre angesehen wird und sich durch Abschießen von Ballistosporen von einem Blatt zum anderen ausbreiten kann. Doch zurück zu dem im Kühlschrank vergessenen Milchprodukt: Ob das große rote Areal durch Ballistosporen oder durch gewöhnliche Vermehrung entstanden ist, ist nicht nachvollziehbar; am ehesten trifft wohl Letzteres zu, da keine Streukolonien, sondern eine homogene Biomasse vorgefunden wurde. Kulturell war die rote Hefe vorerst auch nicht auffällig. Ein Nährboden wurde so be­impft, dass sich im Zentrum nur eine Kolonie entwickelte. Nach etwa zwei Wochen bemerkte ich im Umfeld dieser Kolonie viele kleine bis ganz kleine Kolonien. Ein Indiz für die Ausbreitung durch Ballistosporen … Dabei wählte ich intuitiv das richtige Nährmedium. Bei Vergleichsuntersuchungen mit drei weiteren Medien, auf denen die Hefe gut bis sehr gut anwachsen konnte, war nämlich keine Ausbildung von Ballistosporen zu beobachten.

Mikroben auf Olympiakurs

Als ich Agathe Pfeifer davon erzählte, hatte sie eine Idee für einen Versuchsaufbau, mit dessen Hilfe wir die maximale „Schusshöhe“ der Ballis­tosporen ermitteln können. Beim ersten Versuchsansatz deckten wir die Petrischale des beimpften Nährbodens (eine Kolonie in der Mitte) mit einer Petrischale eines nicht beimpften Nährbodens ab, wobei vorerst ein Abstand von 15mm zwischen den beiden Nährmedien geplant war. Wir entschieden uns für einen Dreifach­ansatz, um die Bandbreite der Sporenverteilung beurteilen zu können. Bei der Studie muss stets davon ausgegangen werden, dass die Ergeb­nisse niemals exakt gleich ausfallen (müssen). Auch ein negatives Resultat ist durchaus möglich. Nach zehn Tagen kam dann die freudige Überraschung: Auf dem oberen Nährboden waren kleine Kolonien sichtbar. Die ersten Sporen dürften demnach nach einer Woche „abgefeuert“ worden sein. Die Bildung einer sichtbaren Kolonie aus einer Spore dauert zwei bis drei Tage. Fünfzehn Millimeter konnten also überwunden werden. Doch wo liegt die Grenze? Wie hoch können solche Sporen tatsächlich geschleudert werden? Wir gingen davon aus, dass der Rekord bei 5cm liegen könnte. Der Abstand der Nähr­böden betrug daher im folgenden Versuchsaufbau 2, 3 und eben 5cm. Diesmal mussten wir uns drei Wochen gedulden. Während 2cm- und 3cm-Distanzen für die Sporen keine Hindernisse waren, blieb der obere Nährboden bei 5cm Entfernung vorerst ohne Wachstum. Erst nach sechs Wochen war bei einem Fünffachansatz eine Platte bewachsen. Wir dürfen den Rekord, den wir intuitiv richtig eingeschätzt haben, somit als bestätigt betrachten. Wer schwimmt am schnellsten? Wer ist im Wachstum der Langsamste? Wer schießt am höchsten? Erleben wir eines Tages eine „Olympiade der Mikroben“? Wer weiß. Rekordverdächtig sind die kleinsten unter den Lebewesen auf jeden Fall.

Angewendetes Nährmedium für Ballistosporen: LB Broth ­(Miller) Merck Art.-Nr.: 110285

Howard Bloom (* 25. Juni 1943 in Buffalo, New York) ist ein US-amerikanischer Autor. Er hatte schon als Kind reges Interesse an wissenschaftlichen Themen, insbesondere Kosmologie und Mikrobiologie. Bekannt ist er auch als PR-Agent bekannter Rockstars wie Prince, Billy Joel und Michael Jackson.

Stichwörter:
Bacteriographie, Mikroben

L&M 2 / 2014

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 2 / 2014.
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