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Das Labor als soziotechnisches System

Die Vision zukunfts­­sicherer Laborlösungen

Im Zusammenhang mit Nachhaltigkeitsüberlegungen für Laborgebäude ­tauchen regelmäßig Konflikte zwischen ökonomisch-ökologischen Kriterien und dem notwendigen Schutz von Leben und Gesundheit der Labormitarbeiter sowie leistungsfördernder Laborumgebung auf. Die Europäische Gesellschaft für nachhaltigen Laborbau EGNATON widmet sich in ihrer Arbeitsgruppe 3 „Working Conditions“ nicht nur diesem Problem.

Sicheres Arbeiten in sicheren Laboratorien

Im Laboralltag stellen sich häufig Routine und Gewohnheit ein. Oft wird dabei vergessen, dass der Arbeitsplatz Laboratorium für Labormit­arbeiter Risiken mit sich bringt, deren Verwirk­lichung zu schweren Unfällen und ernsthaften Gesundheitsgefährdungen führen kann. Arbeitsschutz im Labor wird auch in seiner tatsächlichen Bedeutung für den Erfolg der ­Laborarbeit weitgehend unterschätzt. Kein ­Wunder, dass sich viele fragen, ­worin denn der Sinn auf­wändiger Schutzmaßnahmen im Labor besteht. Anderseits wirken hier einschlägige Erfahrungen prägend: Wer schon einmal Kollegen mit Atemwegsverätzungen erste Hilfe ange­deihen lassen musste oder aufmerksam die Einträge im Verbandbuch der letzten Jahre gelesen hat, stellt diese Frage sicher nicht. Das gilt auch für einen Laborleiter, der sich nach einem schweren Unfall im Labor den üblichen unan­genehmen Fragen nach Gefährdungsbeur­teilungen, Wirksamkeitsprüfung für Schutz­maß­nahmen, Unterweisungsnachweisen, Betriebs- ­anweisungen und Wahrnehmung seiner Aufsichtspflicht stellen muss. Derart subjektive Risiko­wahrnehmungen rufen nach einem „vernünftigeren“ Umgang mit Risiken.



Abb.1 Die drei Dimensionen der Nachhaltigkeit. Zum Zweck einer simultanen Darstellung der drei Dimensionen der Nachhaltigkeit bietet sich das in technischen und naturwissenschaftlichen Bereichen verbreitete Dreiecks­diagramm (Gibbsches Dreieck) an: Das Diagramm bildet ein Gemisch aus drei Komponenten ab (x+y+z=100 %). Die drei Säulen sind hier als Dimensionen aufzufassen, denen Nachhaltigkeitsaspekte kontinuierlich zugeordnet werden können. Das zentrale Feld steht für eine Position mit drei etwa gleich großen Erklärungsbeiträgen. Im integrierenden Nachhaltigkeitsdreieck lassen sich alle möglichen Kombinationen wie folgt darstellen.

Rationaler Umgang mit Risiken

Im Arbeitsschutz verlässt man sich nicht auf die subjektiven Mechanismen der Risikowahrnehmung. Dort gründet sich die Vorhersage physischer oder psychischer Auswirkungen wie Gesundheitsschäden oder Unfälle auf Handlungsmodelle, die, ausgehend von Erfahrungen aus der Vergangenheit, auf zukünftige Folgen extrapolieren. Das „Erklärungsmodell Verletzungen und Erkrankungen“ nimmt eine solche Modellierung von Ursache-Wirkungs-Beziehungen vor. Dazu bedient es sich eines Satzes aller möglichen ­Gefährdungs- und Belastungsfaktoren, die multi­faktoriell verknüpft sein können. Ein derart analytisch ermitteltes Risiko von Unfällen oder Gesundheitsschäden wird in diesem Erklärungsmodell sowohl eingeschätzt als auch bewertet. Dabei dient die Risikoabschätzung der Beschreibung des Gesundheitsrisikos und einer fachkundlichen Abschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit und der möglichen Schadensschwere. Die anschließende Risikobewertung ist eine Entscheidung darüber, ob das bestehende Risiko akzeptabel ist oder ob Handlungsbedarf bezüglich zu treffender Maßnahmen besteht. Warum funktioniert aber dieses Modell in Laboratorien so häufig nicht?



Abb.2 Die Wiedergewinnung der seit Beginn der Industrialisierung verlorenen ausgewogenen Mitte. Beginnend mit den isolierten Reinformen der drei Dimensionen gestaltete sich mit zunehmendem Systemverständnis und wachsender sozialer Verantwortung allmählich ein Pfad in die Zukunftsfähigkeit. Dabei ging der Trend hin zu einer Rückgewinnung der seit der Industrialisierung verlorenen gegangenen ausgewogenen Mitte. Das gültige Nachhaltigkeitskonzept ist ein fast zwingendes Ergebnis der zunächst sich historisch unabhängig voneinander entwickelnden, schrittweisen Verschmelzungen der drei Dimensionen der Nachhaltigkeit.

Laborforschung und Sicherheit

Außer Acht gelassen werden im sozio-technisch geprägten Risikobegriff des Arbeitsschutzes die Konsequenzen aus Erkenntnissen der nutzentheoretischen Entscheidungs- und Einstellungsforschung zur Risikobewertung und -akzeptanz. In diesem Kontext gibt es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der technisch-adminis­trativen und der wissenschaftlichen Sicht auf hinnehmbare Risiken. Insbesondere für Naturwissenschaftler im Labor gehört die Einlassung auf wie auch die bewusste Herbeiführung von Situationen mit ­offenem (riskantem) Ausgang mit der nutzen­geleiteten Aussicht auf Erkenntnisgewinn zum Hauptinstrument evidenzbasierter Forschung. Dies entspricht der Natur des wissenschaftlichen Experiments. Diese Sichtweise gibt es im sozio-technisch geprägten Denkmodell zur Unfallentstehung im Arbeitsschutz nicht, weil sich hier die Abwägung zwischen dem nicht sicherheitsrelevanten Nutzen und dem objektiv überschrittenen Grenzrisiko a priori verbietet. Es bleibt festzuhalten, dass die durch das Unfallerklärungsmodell gestützten Prozesse von Risikowahrnehmung und -identifikation bei Sicher­heitsexperten aus dem technisch-adminis­trativen System anders wahrgenommen werden als durch den stark milieu- und kulturbestimmten Risikowahrnehmungsprozess eines Wissenschaftlers. Hier stehen sich demnach bereits auf der kognitiven Ebene zwei völlig unterschiedliche Wahrnehmungs-instrumente im Labor gegenüber, die eine Verständigung über Risiken erschweren.



Abb.3 Der Test auf optimale ergonomische Luftwerte nach EN ISO 7730. Das Wärmeempfinden für den Körper kann damit als Ganzes vorausgesagt werden, indem das vorausgesagte mittlere Votum (predicted mean vote, PMV) berechnet wird. Der vorausgesagte Prozentsatz an Unzufriedenen (predicted percentage of dissatisfied, PPD) liefert Angaben zur thermischen Unbehaglichkeit oder Unzufriedenheit, indem der Prozentsatz an Menschen vorausgesagt wird, die ein bestimmtes Umgebungsklima wahrscheinlich als zu warm oder zu kalt empfinden. Allgemein gilt ein PPD von 10 % als kritischer Grenzwert für die Akzeptanz der Raumbedingungen. Im Beispiel geht es um zu kalte oder zu warme Umgebungsbedingungen im Laboratorium.

Was dem einen seine Eule, ist dem anderen seine Nachtigall

Einerseits will die Laborforschung die Öffnung innovativer Handlungsstränge mit ihren neuartigen Risiken und Chancen verteidigen. Anderer­seits arbeitet die technisch-administrative Seite gleichzeitig an der Vorausbestimmung von Risi­ken, die sich aus diesen Handlungssträngen ergeben können. Der Laborleiter fordert also mehr Handlungsspielräume und die technisch-administrative Seite macht den Laborleiter, der solche ­Räume schafft und damit Risiken produziert, für die mögliche Verwirklichung dieser Risiken verantwortlich. Diese Konstellation hat eine innere Logik, die zwangsläufig dazu führt, dass Labormitarbeiter Sicherheitsexperten als „Bremser“ oder „Verhinderer“ und z.B. Fachkräfte für Arbeits­sicherheit das Laborpersonal als „Arbeitsschutzverweigerer“ oder „Sicherheitsignoranten“ wahrnehmen. Bizarrerweise wird das jeweilige Gegenüber von den Beteiligten in ihrem eigenen System auch als faktisches Risiko wahrgenommen. Die Fachkraft für Arbeitssicherheit sieht durch den Laborleiter die Verhältnis- oder Verhaltensprävention im Institut bedroht. Und der Laborleiter sieht durch eine zu ­restriktive Auslegung des Grenzrisikos und der damit verbundenen Schutzmaßnahmen seinen Handlungsspielraum bei seinen Forschungsaktivitäten bedroht. So viel zur gelebten Risikoperzeption im Labor. Dies ist aber noch nicht die einzige Hürde für die Laborsicherheit.

Nachhaltigkeit als zusätzliche Herausforderung

Heute erwarten Nutzer und Betreiber von Labor­gebäuden die Bereitstellung langlebiger, energieeffizienter und flexibler Laboratorien, die preiswert gebaut sowie kostenbewusst und anforderungsgerecht betrieben werden können. Ein Laborbetrieb sollte wirtschaftlich nicht über seine Verhältnisse leben, da dies zwangsläufig zu Einbußen an Liquidität und an zukünftigen Erträgen führen würde. Allgemein gilt eine Wirtschaftsweise dann als nachhaltig, wenn sie dauerhaft betrieben werden kann. Dabei gilt: Jede unternehmerische Tätigkeit – auch der Bau oder der Betrieb eines ­Labors – orientiert sich am ursprünglichen Gedanken, keinen Raubbau an der Natur zu betreiben. Ökologisch nachhaltig wäre eine Betriebsweise, die die natürlichen ­Lebensgrundlagen nur in dem Maße ­beansprucht, wie diese sich regenerieren. Lange hat sich so die „nachhaltige Optimierung“ ausschließlich im Koordinatensystem „Ökonomie-Ökologie“ abgespielt. So lange, bis klar wurde, dass dabei eine andere Nachhaltigkeitsdimension, nämlich die sozio-kulturelle, eindeutig zu kurz kam (Abb. 1). Das beste Beispiel finden wir hier bei der Laborlüftung: Eine Reduktion der Luftwechselrate im Labor von 8-fach auf z.B. 4-fach verringert in der Tat sowohl den Einsatz von Energie­ressourcen als auch die Betriebskosten – besser kann man Nachhaltigkeit nicht optimieren. Oder? Da war doch noch was? Richtig. Was passiert dann mit der Atemluft im Labor? Können wir auf diese Weise den Arbeitsplatzgrenzwert für die Schadstoffe in der Luft noch einhalten? Es sollte selbstverständlich sein, bei der ener­getischen Optimierung von Laborgebäuden und Laboratorien den notwendigen Standard für ­Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz nicht unter die Räder geraten zu lassen. Was nützt ein energieeffizientes Labor, in dem die Mitarbeiter nach einer Woche regelmäßig krank werden? Das Labor ist tatsächlich auch ein soziotechnisches System, in dem Menschen über viele Schnittstellen mit Geräten, Maschinen und Schutzeinrichtungen interaktiv kommunizieren. Ein solches System muss zu allererst so gestaltet werden, dass die dort arbeitenden Menschen keinen unzuträglichen Beanspruchungen und Gesundheitsgefährdungen ausgesetzt sind. Außer­dem können auch Menschen ihre beste Leistung im Labor auf Dauer nur dann abrufen, wenn die Umgebungsbedingungen dafür optimal sind (Abb. 2).



Abb.4 Behaglichkeitsfenster Temperatur/Feuchte. Das Behaglichkeitsfenster ist relativ klein und eng (rotes Feld oben), ist durch technische Lüftung im Labor schwer einzuhalten (i.d.R. gibt es keine Luftbefeuchtung in Laboratorien) und verursacht i.d.R. einen erheblichen Ener­giemehraufwand gegenüber „unbehaglichen“ Situationen.

In welcher Arbeitsumgebung arbeitet der Mensch am besten?

Eine leistungsfördernde Arbeitsumgebung im Labor verlangt viel mehr als ein funktionales ­Labordesign und rechtskonformen Arbeitsschutz. Auch diese Prämisse ist bei den Über­legungen zur Energiekostensenkung im Labor immer zu beachten. Der konkrete Inhalt des Begriffs „leistungsfördernd“ ist natürlich abhängig von der jeweils erwarteten Leistung. Jedoch ist den meisten Leis­tungsdefinitionen gemeinsam, dass Leistung durch eine Umgebung gefördert wird, die Konzentration und Kreativität von Mitarbeitern durch ergonomisch entsprechend ausgestaltete Kriterien ermöglicht. Typische Ergonomiefaktoren, deren Berücksichtigung im Labor energierelevant ist, sind z.B. das Raumklima, die natürliche und künstliche Beleuchtung und akustische oder visuelle Reize (Abb. 3, 4). Soweit Ergonomiekriterien auch relevant für die Energiekosten im Labor sind, bedarf es in­soweit einer Abwägung darüber, ob sich die mit einer Energiekosteneinsparung verbundenen Veränderungen solcher ergonomischer Faktoren leistungsmindernd auf Mitarbeiter auswirken können oder nicht.

Die EGNATON-Philosophie

Ohne eine ganzheitliche Berücksichtigung aller drei Dimensionen der Nachhaltigkeit bei Bau und Einrichtung von Laboratorien besteht die Gefahr einer Fehlallokation von Investitions­mitteln. Schlimmer noch: Erst später im Bestand vorgenommene Korrekturen der Versäumnisse kosten ein Vielfaches im Vergleich zur „einge­sparten“ Anfangsinvestition. Das sollte auch für einseitig ökonomisch orien­tierte Bauherren und Betreiber ein Argument sein, das ihnen nicht völlig fremd ist und ihren Interessen gerecht wird. Wer sich als Inves­tor für ein neues Laborgebäude engagiert, ist deshalb ein natürlicher Verbündeter des nachhaltigen Labors. Die erst vor einigen Jahren gegründete Euro­päische Gesellschaft für Nachhaltigen Labor­bau (EGNATON) hat sich deshalb zum Ziel gesetzt, die Nachhaltigkeitsstandards im Laborbau in diesem Sinne neu zu ordnen. EGNATON hat als Ziel die Ableitung eines Markenstandards für Nachhaltigkeit für Laborgebäude, Laboratorien, Laboreinrichtungen, Lüftungskonzepte, Laborgeräte und Betriebsweisen. Die Vision von EGNATON sind zukunfts­sichere Laborlösungen, die eine ausgewogene Balance zwischen ökonomischen, ökologischen und sozio-kulturellen Erfolgsfaktoren vorweisen.

Foto: © panthermedia.net|Jakkrit Orrasri

Stichwörter:
Arbeitsschutz, EGNATON-Philosophie, Nachhaltigkeit

L&M 3 / 2014

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 3 / 2014.
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