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chemie&more - Siliciumdioxid

Neue Materialien

Siliciumdioxid existiert in reiner Form als Quarz und anderen kristallinen Modifikationen. In hydratisierter Form mit der Formel (SiO2)n • x H2O, bildet es Kieselsäuren, von Mono- oder Orthokieselsäure bis hin zu Polykieselsäuren und hochvernetzten Polymeren, sog. Kieselsäuregelen, die äußerst variable Gerüstsubstanzen mit hydrophilen Eigenschaften darstellen [1–3]. Die Entwicklung begann mit der Herstellung der Graham’schen Kieselsäuresole und ersten Kieselsäuregele in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Es folgte dann die Entwicklung technischer Prozesse zur Herstellung der Kieselsäuregele, der pyrogenen und gefällten Kieselsäuren aus Silikaten und Silciumtetrachlorid als Edukten. Die Gewinnung von Reinstsilicium nach der Müller-Rochow-Synthese eröffnete neue Wege für Silicium als Halbleitermaterial und für siliciumorganische Verbindungen zur Herstellung von Silikonen [4]. Ein weiterer Meilenstein war die Synthese von Aerogelen [5].

Klassifizierung von Kieselsäuren
Die Erscheinungsformen (Modifikationen) von Kieselsäuren sind so mannigfaltig, dass es notwendig erscheint, diese nach bestimmten Kriterien zu klassifizieren [6,7]. Diese Mannigfaltigkeit macht es oft schwierig, Substanzen einzuordnen, aber sie erhöht auch den Reiz, neue Materialien zu schaffen.



  • Bulkstruktur: kristallin, amorph (röntgenamorph), hochgeordnet, mesostrukturiert. Es gibt ca. 30 kristalline Modifikationen von SiO2. Innerhalb dieser Gruppe gibt es mikroporöse kristalline Modifikationen, die sog. Clathrasile. Silicalite- I und -II sind die aluminiumfreien Formen des Pentasils vom MFI-Typ mit einem mittleren Porendurchmesser von 0.6 nm. Silicalite haben hydrophobe Eigenschaften [8,9].
  • Porosität: unporös, porös, Hohlraumstruktur, Porendimensionalität, Porennetzwerke, Porenkonnektivität, hochgeordnete Porenstrukturen. Abgesehen von den Clathrasilen und Silicalit I und II sind alle kristallinen Modifikation unporös. Amorphes SiO2 in Form von Kieselsäurexerogel und gefällter Kieselsäure besitzt eine Porenstruktur mit Mikroporen, Mesoporen bis hin zu Makroporen je nach Herstellung. Hochgeordnete mesostrukturierte SiO2-Materialien wie MCM-41, MCM-48, die SBA-Typen SBA-15, SBA-16 etc. besitzen eine reguläre Porenstruktur mit eindimensionaler oder dreidimensionaler Porenstruktur [8].
  • Textur (räumliche Ausrichtung der Bausteine): Agglomeration, Aggregation, Textur erzeugt durch Phasenseparation bzw. pseudomorphe Umwandlung, polymeres Netzwerk. Pyrogene Kieselsäuren und Aerogele bestehen aus Aggregaten (Netzwerken) von SiO2-Nanoteilchen. Poröse bzw. unporöse Nanoteilchen bilden Agglomerate im Mikrometerbereich (Abb. 1). Kieselgelmonolithe zeigen ein Netzwerk von Mesoporen, die über ein System von Makroporen zugänglich sind (Abb. 2). Die Makroporen wurden mittels Phasenseparation (spinoidal decomposition) erzeugt [8].
  • Dispersität: molekular dispers, nano-, micro-, makroskalig. Die Dispersität reicht von molekular gelösten Kiesel säuren, z.B. der Mono-oder Orthokieselsäure, über nano- zu mikro- bis makroskaligen Teilchen oder Agglomeraten.
  • Oberflächenfunktionalität: Typ der funktionellen Gruppen ( hydrophil, hydrophob, polar ionisch), Oberflächenkonzentration und -verteilung, Dichte und Topochemie, Adsorptionseigenschaften [6,10]. Durch Grafting from bzw. Grafting on sowie durch Beschichten mit Polymeren lassen sich die verschiedensten funktionellen Gruppen an der Oberfläche von porösem und unporösem SiO2 kovalent binden [6,10]. Damit lassen sich gezielt die Adsorptionseigenschaften, das Benetzungsverhalten und das elektrische Oberflächenpotenzial einstellen (Funktionsmaterialien) [11].
  • Morphologie: Teilchen, poröse Schichten, Monolithe, Membranen, verspinnbare Fäden. Durch die Morphologiekontrolle von SiO2-Modifikationen können diese dem jeweiligen Anwendungszweck optimal angepasst werden.



  • Innovationspotenziale

    Kieselsäuren (pyrogene, gefällte Kieselsäuren und Kieselsäurexerogele) werden großtechnisch im Tonnen- bis Hunderttausend- Tonnen-Maßstab seit mehreren Jahrzehnten hergestellt [2]. Zu Beginn der 90er-Jahre erfuhr die Kieselsäurechemie einen beträchtlichen Innovationsschub durch Verwendung von Alkoxysilanen als Edukte, die Aufklärung der Sol-Gel-Chemie und die Synthese hochgeordneter mesoporöser Materialien, die mithilfe von Templaten synthetisiert werden [12,13]. Template sind strukturdirigierende organische Zusätze bei der Synthese, die die Bulk- und Porenstruktur sowie die Tex tur und Morphologie beinflussen und steuern. Die Wirkung und der Einsatz von Templaten wurden bei der Synthese von siliciumreichen Zeolithen eingehend studiert und dann auf die Synthese von reinen Kieselsäuren übertragen. Auf diese Weise wurden hochgeordnete mesoporöse Kieselsäuren des Typs MCM-41, MCM-48 u.a synthetisiert [13]. Durch den Einsatz von Tetralkoxysilanen als Edukte sind solche Produkte wesentlich teurer als solche auf Silikatbasis. Die Wertschöpfung liegt jedoch in ihrer besonderen Porenstruktur, Morphologie und in ihrer kontrollierten und einstell baren Oberflächenfunktionalität. Die Aufklärung der Wirkungsweise der Template bei der Bildung nanoskaliger Materialien stellt den Schlüssel dar, um ihre Eigenschaften kontrolliert einzustellen. Dazu gehören auch die Modellierung und Simulation der Bildungsprozesse auf molekularer Ebene und die Charakterisierung ihrer Eigenschaften. Auf der anderen Seite versucht man, die Bildung natürlicher Mineralien wie z.B. der Diatomeenerde (Kieselgur) unter Einwirkung organischer Substrate zu verstehen und aufzuklären (Biomineralisation) (s. Abb. 3) [14]. Nanostrukturierte Materialien bilden die Grundlage zur wissenschaftlichen Untersuchung im Hinblick auf das Verhalten von Gasen, Dämpfen und Flüssigkeiten in begrenzten Hohlräumen (confined space). Stofftransport durch Diffusion, Phasengleichgewichte und Reaktionen in solchen Nano-Hohlräumen verlaufen anders als in freien Volumenphasen. Solche Phänomene bedürfen noch einer intensiven Grundlagenforschung. In diesem Zusammenhang wird oft vergessen, dass es hier ein direktes Analogon zu lebenden Organismen (Pflanze, Tier, Mensch) gibt. Auch im lebenden Organismus finden Stofftransportprozesse statt, die einmal durch Druck und zum anderen durch schwache elektrische Felder in flüssiger Phase bewerkstelligt werden. Um solche fundamentalen Zusammenhänge zu studieren, benötigen wir entsprechende reproduzierbare und in ihren Eigenschaften kontrollierbare und variierbare Materialien. Beispielsweise ist es möglich, poröse und unporöse Kieselgelpartikel mit Teilchengrößen im Nano- und Mikrometerbereich reproduzierbar herzustellen [15,16]. Ein weiteres Forschungsfeld mit hohem Innovationspotenzial ist die Synthese von monolithischen Kieselgelmaterialien, die über einen Sol-Gel-Prozess in Gegenwart eines hydrophilen Polymeren als Porenbildner verläuft [17]. Das Produkt – ein kontinuierliches Bett mit bimodaler Porenstruktur – erlaubt es, mithilfe von Modellierung und Simulation die Eigenschaften vorauszusagen, um bei Stofftrennprozessen in flüssiger Phase optimale Effizienz im Hinblick auf die Trennung und Analysenzeit zu erreichen (s. Abb. 2) [18]. Die Bildungsprozesse erlauben es, durch Hydrolyse und Kondensation von siliciumorganischen Edukten Hybridmaterialien zu synthetisieren, die die vorteilhaften mechanischen Eigenschaften des Kieselgels mit der Variation der funktionellen Gruppen im organischen Rest kombinieren [19]. Das Konzept der templatgestützten Synthese von hochgeordneten mesostrukturierten Materialien lässt sich noch durch das Nanocasting, d.h. das Abbilden von nanostrukturierten Strukturen, ergänzen [20]. Dadurch wird es möglich, hochgeordnete mesostukturierte Kohlenstoffmaterialien und andere Oxide zu synthetisieren, die auf anderem Wege nicht zugänglich sind.

    Anwendungsfelder
    Die Anwendungsfelder solcher Materialien liegen in einem weit gespannten Umfeld, das von selektiven Adsorbentien mit molekularer Erkennung, Sensoren, selektiven Katalysatoren, Wärmespeichern bis zu Materialien für die gezielte Freisetzung von Wirkstoffen und Heath-Care-Anwendungen reicht (Abb. 4). Grundsätzlich hat sich gezeigt, dass die Maßstabsvergrößerung der Synthese solcher Materialien ein zeitaufwändiger und kostenintensiver Prozess ist, denn die meisten der im akademischen Bereich synthetisierten Produkte sind weder reproduzierbar herzustellen noch in ihren wesentlichen Eigenschaften umfassend charakterisiert. Eine Frage, die bereits im Vorfeld beantwortet werden muss, ist die: Müssen es hochgeordnete Produkte aus einer komplexen templatgestützten Synthese sein oder reichen auch nicht geordnete amorphe Kieselgele, um denselben Effekt zu erzielen? Amorphes Kieselgel sollte deshalb als Benchmark stets berücksichtigt werden. Sobald die Anwendungen den humanen Bereich tangieren, sind umfangreiche und toxikologische und klinische Tests erforderlich,die kosten- und zeitaufwändig sind. Nach den bisherigen Erfahrungen wird der Zeitraum von der Entwicklung bis zur Produktion und zum Einsatz solcher Hightech- Materialien mindestens ein Jahrzehnt dauern.

    Literatur
    [1] R.K. Iler, The Chemistry of Silica , John Wiley & Sons, New
    York, 1979
    [2] H. Ferch und A. Kreher in Chemische Technologie
    (Herausgeber Winnacker und Küchler), Band 3, Anorganische
    Technologie II, 4. Aufl., Carl Hanser Verlag,
    München, 1983,75–90
    [3] H.E. Bergna, The Colloid Chemisty of Silica, ACS,
    Washington DC, 1994
    [4] W. Noll, Chemistry and Technology of Silicones,
    Academic Press, London , 1968
    [5] J. Fricke, Aerogele, Springer Verlag, Heidelberg, 1986
    [6] K.K. Unger, Porous Silica, Elsevier, Amsterdam, 1979
    [7] F. Liebau, Nomenclature of Zeolites, IUPAC Commission
    on Advanced Materials
    [8] K.K. Unger and D. Kumar in Adsorption on Silica
    Surface (E. Papirer, Herausgeber), Marcel Dekker, New
    York, 2000, 1–7
    [9] K.K. Unger in H.E. Bergna, The Colloid Chemisty of Silica,
    ACS, Washington DC, 1994, 165–182
    [10] E.F. Vansant, P. Van Der Voort and K.C. Vrancken, Characterization
    and Chemical Modification of the Silica
    Surface, Elsevier, Amsterdam, 1995
    [11] E. Papirer, Adsorption on Silica Surface, Marcel Dekker,
    New York, 2000
    [12] C.J. Brinker and G.W. Scherer, Sol-Gel Science, Academic
    Press, Boston 1990
    [13] Th. J. Pinnavaia and M.F. Thorpe, Access in Nanoporous
    Materials, Plenum Press, New York, 1995
    [14] P. Behrens and E. Bäuerle, Handbook of Biomineralisation,
    Wiley-VCH, Weinheim, 2009
    [15] G. Büchel, M. Grün, K.K. Unger, A. Matsumoto and K.
    Tsutsumi, Supramol. Sci. 5, 253 –259, 1998
    [16] K.K. Unger, D. Kumar, M.Grün, G. Büchel, S. Lüdtke, Th.
    Adam, K. Schumacher and S. Renker, J. Chromatogr. A,
    892, 47–55 , 2000
    [17] K. Nakanishi, J. Porous Mater. 4, 676–112 , 1997
    [18] R. Skudas, B.A. Grimes, M. Thommes, M. Lubda and K.K.
    Unger, J. Chromatogr. A 1191, 2625–2636, 2009
    [19] F. Hoffmann and M. Fröba in Supramolecular Chemistry
    of Organic-Inorganic Hybrid Materials, John Wiley &
    Sons, New, 39–102, 2010
    [20] A.H.Lu and F. Schüth, Adv. Mater. 18. 1793–1805, 2006

L&M 1 / 2010

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 1 / 2010.
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