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Ionisierende Strahlung

Fukushima hat wieder deutlich gemacht, dass die in der Öffentlichkeit vorhandene Sachkenntnis im Zusammenhang mit ionisierender Strahlung gegen null geht. Insbesondere bestehen völlig verzerrte Vorstellungen zur Gefährlichkeit ionisierender Strahlung. Um es allerdings von Anfang an klarzustellen: Ionisierende Strahlung ist nicht harmlos. Aber sie ist bei Weitem nicht so wirkungsvoll, wie von den meisten Menschen angenommen. Nachdem wir inzwischen mehr als 100 Jahre Strahlenforschung hinter uns haben, wissen wir enorm viel. Es stimmt jedoch, dass es Wissenslücken gibt, auf die ich im Folgenden eingehen werde.

Die fehlenden Kenntnisse in der Öffentlichkeit und vor allem bei den Medien beginnen bereits mit der Wortwahl. Der Begriff „radioaktive Strahlung“ beispielsweise ist nahezu immer falsch. Alpha-, Beta- und Gamma-Strahlung sind nicht radioaktiv (freie Neutronen sind es und dort ist der Begriff richtig). Diejenigen, die den Begriff „radioaktive Strahlung“ verwenden, wollen damit ausdrücken, dass diese Strahlen von radioaktiven Stoffen ausgehen, das bedeutet aber nicht, dass Alpha-, Beta- oder Gamma-Strahlung unter Aussendung von Strahlung zerfällt, was der Begriff „radioaktive Strahlung“ tatsächlich bedeutet. Der richtige Begriff ist „ionisierende Strahlung“, d.h., diese Art Strahlung ist in der Lage, Elektronen aus Atomen abzutrennen, wodurch zwei geladene Teilchen auftreten („Ionen“, von grch. ionos, das Wandernde, weil sie im elektrischen Feld wandern) – das negativ geladene Elektron und das positiv geladene Restatom.
Der Begriff „verstrahlt“ ist rein emotional und weitgehend uninformativ. Informativ sind Begriffe wie „strahlenexponiert“ (Strahlung ausgesetzt), „kontaminiert“ (radioaktive Stoffe haben sich auf der Körperoberflächeniedergeschlagen) oder auch „Inkorporation“ (radioaktive Stoffe sind in den Körper gelangt), „Ingestion“ (Aufnahme über die Nahrung), „Inhalation“ (Aufnahme über die Atemwege). Was weiterhin immer wieder missverstanden wird, sind die Messwerte. Die Messung der Aktivität, angegeben in Becquerel (1 Bq = 1 Zerfall pro Sekunde), sagt nichts (!) zum Strahlenrisiko. Um hierzu Aussagen machen zu können, braucht man die Höhe der Dosis, angegeben in Gray (Gy), wenn es um akute Strahleneffekte (Todesfälle) geht oder in Sievert (Sv) im Falle von Langzeiteffekten (Tumorfälle, Erbkrankheiten). Es gibt kein einfaches Verfahren, um aus Becquerel-Werten die Strahlendosis zu ermitteln. Hierzu muss man in umfangreichen Tabellenwerken nachschlagen.

Ein weiteres Missverständnis resultiert aus einer Annahme, die im Strahlenschutz gemacht wird. Dadurch, dass es mithilfe epidemiologischer Verfahren zurzeit nicht möglich ist, das Tumorrisiko für Erwachsene unterhalb von etwa 100 mSv zu ermitteln, muss man eine Annahme machen, wie sich das Risiko bis zur Dosis null fortsetzt. Im Strahlenschutz geht man davon aus, dass man das Risiko, das im Bereich von etwa 100 mSv bis etwa 3.000 mSv (3 Sv) beobachtet wird, linear ohne Annahme einer Schwellendosis herunterrechnen kann. Diese Art des Vorgehens wurde inzwischen so häufig in Lehrbüchern dargestellt, dass viele Menschen davon ausgehen, dass dieses Modell nachgewiesen sei. Das ist nicht der Fall. Im Bereich einiger zehn Millisievert könnte der Verlauf der Dosis-Wirkungsbeziehung auch völlig anders aussehen. Im Vergleich zu dem gerade beschriebenen Modell könnte es niedriger sein, unterhalb einer bestimmten Dosis ganz fehlen, es könnte leicht höher sein oder niedrige Strahlendosen könnten sogar zu einer geringfügigen Verminderung der spontanen Tumorhäufigkeit führen. Dies ist eine der oben angesprochenen Wissenslücken, die dringend durch Forschung geschlossen werden muss. Zurzeit kann man nur sagen, dass es nicht klar ist, wie hoch das Tumorrisiko im Bereich einiger Millisievert bis einiger zehn Millisievert ist, dass es aber in jedem Fall niedrig sein muss, weil es sonst nachweisbar wäre.

Auch das Ausmaß des Tumorrisikos wird nahezu immer falsch eingeschätzt. Die verlässlichsten Daten stammen von den Überlebenden der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki. Ein großer Teil dieses Personenkreises ist per Gesetz verpflichtet, sich regelmäßig ärztlich untersuchen zu lassen. In die Studien gehen seit 1950 knapp 90.000 Per sonen ein. Bis zum Jahr 2000 sind hiervon etwa 600 Personen an einem strahleninduzierten Tumor gestorben und nicht viele zehntausend, wie häufig behauptet wird. Die Zahl von 600 ist schlimm genug, da will ich wahrhaftig nichts beschönigen und in den nächsten Jahren sind weitere Betroffene zu erwarten. Aber man muss eine schlimme Zahl nicht noch schlimmer reden, als sie ohnehin schon ist. Häufig wird übersehen, dass eine ganze Reihe von Strahleneffekten Schwellendosen aufweisen, die überschritten werden müssen, bevor sie überhaupt auftreten können. Das spielt zurzeit in Fukushima eine große Rolle. Dort verwendet man einen Grenzwert von 250 mSv für die vor Ort Tätigen. Damit wird sicher verhindert, dass sie akut (d.h. innerhalb der ersten 60 Tage sterben). Die Schwellendosis für den akuten Strahlentod liegt bei etwa 1.000 mSv und selbst nach Überschreitung dieses Wertes sind medizinische, lebensrettende Maßnahmen nahezu immer erfolgreich. Erst in Bereichen oberhalb von etwa 6.000 mSv werden auch intensive medizinische Maßnahmen nur noch selten zum Erfolg führen. Selbstverständlich muss man das erhöhte Langzeitrisiko der Rettungskräfte in Fukushima beachten. Frühestens nach etwa 2 Jahren können Leukämiefälle und frühestens in etwa 8 bis 10 Jahren solide Tumoren auftreten. Davon wird jedoch bei Weitem nicht jeder der Helfer betroffen sein. Man muss daher für diese Männer ein Nachsorgeprogramm vorsehen, sodass frühzeitig eventuelle Leukämie- oder Krebsfälle erkannt werden können.

Warum diese detaillierte, wenn auch bei Weitem unvollständige Darstellung des vorhandenen Wissens? Sie ist wahrlich nicht gedacht, um den Eindruck zu vermitteln, ionisierende Strahlung sei harmlos. Aber, wie bereits oben angesprochen, es ist gefährlich, ionisierende Strahlung schlimmer darzustellen, als sie tatsächlich ist. Die Gefahr besteht darin, dass Ängste ausgelöst werden, deren Auswirkungen in manchen Fällen größer sind als die Strahlenwirkungen selbst. In einer ganzen Reihe von westeuropäischen Ländern hat es im Zusammenhang mit Tschernobyl Schwangerschaftsabbrüche mit der Begründung gegeben, dass die Schwangeren Sorge hatten, aufgrund der durch Tschernobyl hervorgerufenen Strahlung fehlgebildete Kinder zu gebären. Gerade hier sind wir aber sehr sicher, dass Fehlbildungen und geistige Behinderung nur während ganz bestimmter Schwangerschaftszeiten (3. bis 7. Woche bei den Fehlbildungen, 8. bis 25. Woche bei der geistigen Behinderung) ausgelöst werden können und dass Schwellendosen überschritten werden müssen, die oberhalb von etwa 100 mSv liegen. Es war aber ziemlich schnell klar, dass Strahlendosen von mehr als 100 mSv in Westeuropa nicht auftreten konnten.

Es kann und darf bei der Einschätzung von Gefahren durch ionisierende Strahlung nicht um „Bauchgefühle“ gehen. Es ist notwendig, die Gefahren auf der Basis der in mehr als 100 Jahren Strahlenforschung erhaltenen Ergebnisse klar zu benennen, aber eben nicht zu übertreiben. Insbesondere im Bereich unterhalb von etwa 100 mSv sind weitere Forschungsanstrengungen notwendig und man kann nur hoffen, dass diese Notwendigkeit von der Politik erkannt wird und dem in den letzten Jahrzehnten zu beobachtenden Trend, Strahlenforschungseinrichtungen zu schließen, entgegengewirkt wird. Denn ganz unabhängig vom geplanten Ausstieg Deutschlands aus der Kernenergie werden Kenntnisse zu Strahlenrisiken notwendig bleiben im Bereich der Medizin, der natürlichen Strahlenexposition, beim Rückbau von Nuklearanlagen und im Zusammenhang mit Kernkraftwerken in anderen Ländern.

L&M 3 / 2011

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 3 / 2011.
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