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Haare mit unbeschränkter Haftung

Prof. Dr. Stanislav Gorb
Zoologisches Institut, Universität Kiel

Man ist immer wieder beeindruckt on außergewöhnlichen Fortbewegungsfähigkeiten on Lebewesen, insbesondere dann, wenn der Mensch dazu nicht in der Lage ist. Ein Beispiel ist das Laufen an Wänden und Decken. Spinnen erklimmen scheinbar mühelos glatte, senkrechte Wände und setzen ihren Spaziergang auch an der Decke noch fort. Extrem dünne Härchen erleihen ihnen, aber auch Insekten und Geckos, diese bemerkenswerte Fähigkeit. Spinnenund Insektenfüße haben zusätzlich noch feine hakenartige Krallen, die sich mit rauen Oberflächen erzahnen.

Insekten verlassen sich nach bisherigen Erkenntnissen allein auf ihre Mikrohärchen und haben deren Form für unterschiedliche Untergründe optimiert. Besonders stark haften Haare, deren Enden sich spatel- oder pilzförmig verbreitern. Doch während das Klebe- und das Häkchenprinzip im Tesafilm und Klettverschluss schon lange technisch umgesetzt werden, tauchen die Folien mit Mikrohärchen in unserem Alltag noch nicht auf. Interessanterweise gibt es keine einfache Erklärung für diesen Mechanismus. Es handelt sich vielmehr um eine Kombination aus mikro- und nanostrukturierten Oberflächen, viskoelastischen Materialien, biphasischen Flüssigkeiten und deren Transportsystemen sowie der Art der Bewegung selbst. Einige dieser Eigenschaften sind, vom physikalischen Standpunkt aus betrachtet, trivial, andere dagegen sind hoch komplex und erfordern weitere experimentelle Untersuchungen und theoretische Überlegungen. Neben Haftsystemen, die der Fortbewegung dienen, gibt es eine enorme Vielfalt an Haftsystemen, die andere Funktionen erfüllen.

Ermöglicht durch den Einsatz neuester experimenteller Techniken, Hochgeschwindigkeits-Videoaufnahmen, Kraftmessungen und aufwändige Mikroskopieverfahren kam in den vergangenen zehn Jahren starkes Interesse an biologischen Haftsystemen auf. Es stellte sich heraus, dass biologische Haftstrukturen wichtige Eigenschaften im Hinblick auf Evolutions- und ökologische Untersuchungen besitzen. Zudem bergen detaillierte Informationen über Haftstrukturen und -mechanismen ein großes Potenzial für biomimetische Anwendungen. Die Wissenschaftler in unserer Forschungsgruppe haben in Zusammenarbeit mit industriellen Partnern mehrere funktionelle Prinzipien der Mikrohärchen erstmals erfolgreich in einem künstlichen Haftmaterial nachgeahmt. Die Haftkraft der biomimetischen Struktur beruht auf Mikrostrukturen, die wie winzige Pilze geformt sind. Nach Untersuchung von mehr als 300 verschiedenen Haftsystemen (siehe Abbildungen) haben wir uns für das Design einer Mikrostruktur entschieden, die bei Fußsohlen der Männchen verschiedener Käferarten oft vorkommt. Wenige Quadratzentimeter des mikrostrukturierten Materials halten an Glaswänden mit glatten Oberflächen einige Kilogramm schwere Gegenstände; an der Decke allerdings bis zu zehnmal weniger Gewicht.

Glatte Strukturen, also etwa Glas oder poliertes Holz, eignen sich gut als Untergrund für solche Haftstreifen – Raufasertapete dagegen kaum. Auch Insekten haben Schwierigkeiten, auf Oberflächen mit feiner Rauigkeit zu laufen, dies ist ein grundsätzliches Problem des Haftmechanismus. Nach dem Ablösen hinterlässt das Material auf der Oberfläche keine sichtbaren Spuren und haftet auch noch, nachdem es Hunderte Male angebracht und wieder abgerissen wurde. Wenn es verschmutzt ist, lässt es sich im Gegensatz zu Klebestreifen sogar waschen, ohne seine Haftkraft einzubüßen. Verwenden lässt sich das haarige Haftmaterial unter anderem als Schutzfolie für empfindliche Gläser oder einfach als wiederbenutzbarer Klebestreifen – Kühlschrankmagnete ade, jetzt kommen die Mikrohärchen, die zudem an Spiegel, Schrank und Scheibe halten.

Auch bei dynamischen Vorgängen bewies das Material schon seine Leistungsfähigkeit: Ein 120 Gramm schwerer Roboter konnte mit den künstlichen Haftfasern an der Fußsohle eine senkrechte Glaswand ersteigen. Bei der Herstellung dient – wie beim Kuchenbacken – eine Form als Vorlage, in die gleichsam als Negativbild die gewünschte Oberfläche eingegossen ist. In diese Form wird ein polymerisierendes Gemisch eingefüllt. Nach dem Aushärten wird der Kunststoff von der Vorlage getrennt. Die Konstruktion der Mikrostruktur-Kuchenform bildete die größte Herausforderung. Aber auch die Optimierung der Polymer-Mischung kostete viel Geduld: Ist sie zu flüssig, fließt sie einfach aus der Form heraus. Ist sie zu viskos, gelangt sie gar nicht erst hinein. Derzeit laufen umfangreiche Versuche zur Verbesserung des Polymers. Es gilt, die Strukturen zu verfeinern und etwa dafür sorgen, dass es auch unter Wasser haftet oder sich in eine Richtung verschieben lässt. Die Arbeitsgruppe hat noch jede Menge Arbeit vor sich, um die Folie bei unterschiedlichen Bedingungen (z.B. Luftfeuchtigkeit, Rauheit des Untergrundes, schmutzige und verschmierte Oberflächen, maximale Anzahl der Haftzyklen, etc.) zu charakterisieren. Mit den pilzköpfigen Hafthärchen ist jetzt nur ein Mechanismus, der Insekten Halt gibt, technisch umgesetzt. Trotzdem ist ihre Hafttechnik den künstlichen immer noch klar überlegen: Die Insekten, Spinnen und Geckos können nach Belieben zwischen den Haft- und Verklammerungsmethoden wechseln, je nachdem, über welchen Untergrund sie gerade laufen. In einer Zusammenarbeit mit der Robotik Gruppe um Prof. Dr. Roger Quinn (Case Western Reserve University, Cleveland, OH, USA) und Firma Tetra GmbH (Ilmenau) werden solche Prinzipien in Kletterrobotern implementiert. Es gibt noch viel zu tun. Die aus Untersuchungen an biologischen Objekten erhaltenen Ergebnisse verdeutlichen für Materialwissenschaftler die Notwendigkeit, die inhärenten Materialeigenschaften mit der Geometrie des Kontakts zu verknüpfen. Die Effizienz der natürlichen Systeme kann nicht eins zu eins umgesetzt werden, aber einige der Konzepte lassen sich in die Welt der Materialien übertragen, um Oberflächen mit bestimmten Eigenschaften und Funktionen zu konstruieren, die man in biologischen Systemen beobachtet hat. Wir glauben, dass die immense Vielfalt biologischer Haftmechanismen Materialwissenschaftler und Ingenieure beständig zur Entwicklung neuer Materialien und Systeme anregen wird. Daher sollten breit angelegte vergleichende funktionelle Untersuchungen an biologischen Oberflächen intensiviert werden, um daraus die wesentlichen strukturellen, chemischen und mechanischen Prinzipien abzuleiten, die sich hinter den Funktionen verbergen. Die Nutzung der lebenden Natur als eine endlose Quelle der Inspiration kann als ein weiterer Grund angesehen werden, biologische Vielfalt zu erhalten.

Fotos: © Prof. Dr. Stanislav Gorb

Diese Arbeit wurde als Teil des EUROCORES FANAS-Programms
der European Science Foundation gefördert durch
Mittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG (Vertrag
Nr. GO 995/4-1) und des EC Sixt Framework-Programms
(Vertrag Nr. ERAS-CT-2003-980409) sowie des Biona Projekts
des Bundesministeriums für Bildung und Forschung
(BMBF Biona 01 RB 0802A).




Weiterführende Literatur
Bücher
S.N. Gorb (2001) Attachment devices of insect cuticle. Dordrecht:
Springer.
M. Scherge and S. N. Gorb (2001) Biological micro- and
nanotribology. Berlin: Springer.
S.N. Gorb, editor (2009) Functional surfaces in biology.
Dordrecht: Springer.
Originalartikel
S. N. Gorb (2006) Functional surfaces in biology: mechanisms
and applications. In: Biomimetics Biologically Inspired
Technologies, edited by Y. Bar-Cohen, Boca Raton: CRC
Press, p. 381-397.
S.N. Gorb, M. Varenberg, A. Peressadko and J. Tuma (2007)
Biomimetic mushroom-shaped fibrillar adhesive microstructure.
J. R. Soc. Interface 4: 271-275.
S.N. Gorb, M. Sinha, A. Peressadko, K.A. Daltorio and R.D.
Quinn (2007) Insects did it first: a micropatterned adhesive
tape for robotic applications. Bioinspiration and Biomimetics
2: 117-125.
S.N. Gorb and M. Varenberg (2007) Mushroom-shaped geometry
of contact elements in biological adhesive systems. J.
Adhesion Sci. Technol. 21: 1175-1183.
M. Varenberg and S. Gorb (2008) Close-up of mushroomshaped
fibrillar adhesive microstructure: contact element
behaviour. J. R. Soc. Interface 5: 785-789.

L&M 1 / 2009

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 1 / 2009.
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