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Irritationen der Schönheit

Irritationen der Schönheit

Gehören schöne Zähne in ein schönes Gesicht?

Prof. Dr. Martin Karrer,
Kirchliche Hochschule Wuppertal/Bethel

„In ein schönes Gesicht gehören schöne Zähne“ – hat der bekannte plastische Chirurg W.L. Mang [1] mit diesem Satz Recht? Die älteste menschliche Kunst sah das anders. Sie scheute jahrtausendelang davor zurück, das Gesicht überhaupt darzustellen [2] und als sie mit diesem Tabu brach, verbarg sie alle Gesichtszüge unter den Haaren. Das Gesicht des Menschen ist – vertrat sie – unverfügbar.

Im alten Ägypten und Zweistromland zerbrach dieser Vorbehalt, doch eine letzte Scheu hielt sich ungebrochen bis in die europäische Neuzeit: In das schöne Gesicht gehört ein geschlossener Mund, kein sichtbarer Zahn und mag der Zahn noch so schön sein. Das spiegelt nicht nur Probleme der Zahngesundheit (die bis vor Kurzem ästhetisch nur unbefriedigend behandelbaren Folgen von Karies usw.), sondern ein grundsätzliches Bedenken, das ein dem Transvaal zugeschriebener Aphorismus so in Worte fasst: „ Die lachenden Zähne sind es, die einander beißen.“ Zähne bedrohen – einst waren sie Waffen – und diese Drohung kann jederzeit neu ausbrechen, bis hin in Liebesspiele mit „beißelnden“ und auf einmal verletzenden Zähnen. Aufmerksam werden wir auf eine Eigenart der im letzten Jahrzehnt so beliebten biologisch- psychologischen Gesichtsstudien: Sie verankern Attraktivität in der Evolution und führen Besonderheiten, wie die Bevorzugung eines weiblichen Kindchenschemas oder eines männlich kantigen Gesichtes auf biologische Reize zurück – und unterdrücken zugleich eine Betrachtung der Zähne. Ob wir die Gesichter der Regensburger, der angelsächsischen oder der amerikanischen Studien betrachten, nie öffnen sie den Mund und stets finden wir kaum Erläuterungen zu den Zähnen. Das schöne Lächeln mit leuchtenden weißen Zähnen aus rotem Mund hat interessanterweise biblische Wurzeln (im Hohenlied 4,2f.). Aber es verbreitet sich auf Porträts nur zögerlich. Sein Siegeszug beginnt mit der Gründerzeit nach 1870 und ist stets von Kritik begleitet: Eine „Schönheitsfalle“ droht, weil die nach Attraktivität strebende Person sich von Wünschen Dritter oder einer eigenen psychischen Befindlichkeit abhängig macht, die sich ändern kann oder – noch schlimmer – ein Attraktivitätsmodell auf Dauer zu stellen versucht, während sich Gesichter einschließlich der Zähne mit dem Alter ändern.

Heidi Klums vergilbte Milchzähne

Heidi Klum löste so eine irritierende Diskussion aus, als sie ihre ausgefallenen und inzwischen vergilbten Milchzähne 2008 zur Jay Leno-Show mitbrachte. Das zerstöre die Fantasie von ihrer Schönheit, meinte der Moderator und Diskussionen stimmten ihm bei [3]. Die heute in vielen Praxen verfolgte „Philosophie“, Zähne sollten ästhetisch „natürlich“ sein, müsste eine andere Richtung befürworten, nämlich Natur samt ihrer manchmal nicht reinweißen Entwicklungen zur Geltung zu bringen. Halten wir ein Pressefoto von Heidi Klum dagegen. Es verkörpert das heutige Ideal weißer, natürlich scheinender Zähne aus lächelndem Mund bis hin zu kleinen, Individualität garantierenden Unregelmäßigkeiten, und trotzdem sind das Weiß der Zähne, die klare, geschlossene Linie der oberen Zahnreihe und das Lächeln kulturell geprägt. Von der Renaissance bis gegen Ende des 19. Jh. bevorzugte die Mehrheit der Bevölkerung farblich unauffällige, also etwas blassere, nicht leuchtende Zähne (das heutige Weiß hängt mit der Durchsetzung der Zahnpasta und den darauf folgenden technischen Möglichkeiten zusammen). Der einzelne Zahn galt oft gerade dann als gesund, wenn Zahnzwischenräume ihn von den Nachbarn abhoben, und das Lächeln zeigte „natürlich“ keine Zähne. Die Haltung Heidi Klums reagiert indirekt auf die Probleme: Die untere Zahnreihe ist zurückgesetzt und nur so angedeutet, dass sich das Gebiss trotz offener Lippen tendenziell schließt. Ein unbewusstes, doch wichtiges Signal entsteht: Diese Zähne beißen nicht. Der Sieg des Lächelns ist in eine kulturelle Gestaltung eingebunden, nur scheinbar spontaner Freiheit überlassen.

Die Kunst entlarvt das Problem

Yue Minjun, der derzeit die Kunstszene erobert, verwendet das lachende Gesicht als Markenzeichen: Der Mensch trägt es vor sich her – und verliert doch darob seinen Kopf. Lachend, in himmlischem Frohsinn (man sehe den Himmel in der Abb. rechts, der den angeschnittenen Hals verdeckt) soll er durchs Leben laufen. Aber ist das noch Leben, wenn die Schönheit erstarrt, der lachende Augenblick mit den makellosen Zähnen zur Dauer werden soll? Die Ambivalenz stellt die Zahnmedizin vor eine große Herausforderung. Unfraglich sind alle Maßnahmen, wo eine funktionale Behandlung gleichzeitig die Ästhetik verbessert. Kritische Prüfung ist indes überall gefordert, wo ästhetische Wünsche sich gegenüber der Funktion verselbstständigen und die Grenzen zur kosmetischen, medizinisch nicht indizierten Behandlung verschwimmen. Dort muss/müssen Arzt/Ärztin die Fragen stellen:

>> Ist der Wunsch der Patientin/des Patienten ästhetisch sinnvoll?
>> Ist eine Lebenssituation gegeben, die eine Behandlung im Sinne ärztlichen „Wohl-Tuns“ („beneficere“) rechtfertigt?
>> Hält sich die Gefahr, durch die Behandlung schädliche Nebenwirkungen in engen, vertretbaren Grenzen auszulösen (also die Gefahr des medizinisch verbotenen „nocere“)?
>> Wahrt eine Behandlung die Besonderheit ärztlichen Handelns gegenüber nichtärztlich-kosmetischem Tun (eine wichtige Tradition der Standesethik)?

>>karrer@uni-wuppertal.de

Literatur
[1] www.dentalspecialists.de/pdf/Kongress_cosmetic_dentistry.pdf,
abgerufen am 06.01. 2010.

[2] Der Kopf der derzeit ältesten bekannten menschlichen Figur, der „Venus“ vom
„Hohlen Fels“ (gefunden 2008, mindestens 35.000 Jahre alt), ist vom Schnitzer absichtlich nicht ausgearbeitet (Abb. in http://de.wikipedia.org/wiki/Venus_vom_Hohlen_Fels,
abgerufen am 06. 01. 2010).

[3] S. die Diskussionen z.B. unter www.smash247.com/star-news/lesen/heidiklum-
sie-schleppt-ihre-ziemlich-gelben-zaehne-als-gluecksbringer-herum-01256/, abgerufen am 06.01.2010.

Foto: MatthiasKabel

L&M 1 / 2010

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 1 / 2010.
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