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Needham’s question

Zu Joseph Needhams 21. Todestag

Zhuang Zhou (Chuang-tzu, Tchouang-tseu, auch Zhuang-Zi (Meister Zhuang)) lebte laut Sima Qian [1] von etwa 369 bis 286 v. Chr. und Joseph Needham von 1900 bis 1995. Zu Meister Zhuang kommen wir später, fangen wir mit Needham an: Gelernter und erfolgreicher Biochemiker, wurde er ab etwa 1945 vor allem als Sinologe und Mittler zwischen der chinesischen und der europäischen (Natur-) Wissenschaft bekannt und sogar berühmt. Seine als „Needham’s question“ bekannte Problemstellung lautet kurz zusammengefasst: „Wie kam es dazu, dass China bis zirca 1650 die absolut führende Wissenschafts- und Technologie‚macht‘, ab etwa 1700 von Europa innerhalb eines Jahrhunderts überholt und völlig abgehängt wurde?“ Die Antworten auf diese (inzwischen erweiterte) Frage füllen inzwischen Bände [2], und es wird weiterhin daran gearbeitet.

Es ist klar, dass nur einige wenige Aspekte dieses überreichen Oeuvres hier gestreift werden können. Der Autor dieser Zeilen hat sie, völlig nach eigenem Gusto, herausgepickt, um einen Punkt zu beleuchten, der ihm immer mehr sauer aufstößt: Die seit einiger Zeit mehr oder minder überall vorgenommenen Änderungen in der „wissenschaftlichen“ Ausbildung in der Chemie. Ob diese langsam einem Paradigmenwechsel gleichkommende Entwicklung gewollt oder ungewollt ist – und wenn ja, von wem – bleibe erst einmal dahingestellt.
Laut Needham liegt der entscheidende Unterschied zwischen dem klassisch-chinesischen und dem neuzeitlicheuropäischen Wissenschaftsverständnis im Begriff des „Gesetzes“: Das römische Recht hat Europa geprägt; der jüdische Gott und der christliche Gott erlassen Gesetze. Die Neuerung der Renaissance war, dass der Mensch jetzt zur Auffassung kam, er könne diese „Naturgesetze“ erkennen, erforschen, erfassen und letztlich als Handlungsanweisung nutzen. Mathematik ist die Sprache der Natur, sagte Galilei, und so fassen wir heute noch unsere Naturgesetze zusammen. Einstein hatte genau diese „gesetzliche“ Grundlage der Naturwissenschaft im Sinn, als er zur Quantenmechanik sagte: „Gott würfelt nicht.“ Wir haben uns inzwischen aber daran gewöhnt, dass es probabilistische Gesetze gibt. Und Physiker suchen weiterhin nach der „theory of everything“.
Anders im klassischen China. Wie gesagt, bis 1650 in jeder Hinsicht führend. Jede Darstellung der chinesischen Geistesgeschichte betont deren durchgehende Abneigung gegen philosophische Systeme und Gesetze, ja, gegen Systematisierungen jeder Art. Dazu erzählt uns Meister Zhuang in dem nach ihm benannten Zhuangzi [3] die Anekdote vom Koch Ding [4]: Zu dessen Aufgaben zählt es, Ochsen zu zerlegen. Als junger Mann brauchte er dazu jede Woche ein neues Messer, weil das alte verschlissen war. Später ging es dann besser und er brauchte nur dann und wann ein neues Messer.
Nach Jahren hatte er „die Sache im Griff“ und benutzte am Ende seit 19 Jahren das selbe Messer. F. Heubel fasst den Sinn der Anekdote folgendermaßen zusammen [5]: „Der Koch selber beschreibt diese Fähigkeit als Ergebnis eines Lernprozesses: In den ersten drei Jahren seiner Arbeit habe er nichts anderes als den Ochsen in seiner ganzen Massivität gesehen; nach drei Jahren begann er sich von der sinnlichen Aufdringlichkeit des ‚ganzen Ochsen’ zu lösen, um es schließlich nicht mehr mit den Augen zu sehen, sondern ihm ‚geistig zu begegnen‘. Sofern sich beim Zerlegen Schwierigkeiten abzeichnen, gelte es besonders achtsam zu sein, seinen Blick zu konzentrieren und mit langsamer und subtiler Bewegung vorzugehen, um die Hindernisse zu umgehen (vor allem die großen Knochen). Nach dem Modell solcher Messertechnik gilt es, sein Potential zu ‚handhaben‘ und kontinuierlich den Weg seines Nicht-Erlahmens zu finden ...“
Koch Ding analysiert also nicht, was er tut, sondern er übt und verinnerlicht (löst sich von der sinnlichen Aufdringlichkeit) so lange, bis er eine vollkommene Meisterschaft erreicht hat. Er umgeht Hindernisse, überwindet sie nicht. Mit anderen Worten: Er sucht das Dao [6]. Ob es Gesetzmäßigkeiten gibt oder nicht ist unerheblich.
Es geht also grob gesagt darum, ob wir das, was um uns herum vorgeht, wissenschaftlich lediglich als eine Sammlung von Einzelfällen auffassen wollen, die es zu erlernen gilt, um sie irgendwie pragmatisch und effizient in den Griff zu bekommen. Koch Ding und (fast) die gesamte chinesische Wissenschaft waren damit jahrhundertelang äußerst erfolgreich. Oder bleiben wir beim abendländischen Paradigma, wonach es sich lohnt (wie auch immer) zu erkennen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“?
Auf die hier anstehende Frage bezogen: Soll man in der Erstsemestervorlesung in Chemie (und leider zunehmend auch später) munter vom Big Bang, von der DNA, von „soft matter“, Ökologie, Krebsforschung und sonstigen Dingen erzählen, die sicher sehr sexy sind, kunterbunt durcheinander [7], während die Studenten (noch) keine Ahnung haben, was ein Atom ist und woraus es wohl bestehen mag und ob pV konstant ist oder nicht und wenn ja, unter welchen Umständen? Sicher ein extremes Beispiel, aber leider ein typisches. Mit anderen Worten: Kann man, will man Chemie (um beim Beispiel zu bleiben) auf eine Sammlung von „case studies“ [8] zurückführen?
Joseph Needhams Werk gibt uns den Anlass, darüber nachzudenken, auf wessen Schultern wir stehen. Der europäische Ansatz (oder neutraler gesagt: der legalistische oder analytische oder ...) prägt seit 200 oder 300 Jahren die Welt (einigen Leuten sicher auch zum Verdruss) und wird ja auch u.a. in China mit zunehmendem Erfolg praktiziert. Empfinden wir inzwischen die Welt als so komplex und unkontrollierbar, dass wir Systematisieren als nicht mehr machbar oder zweckvoll ansehen? Viele junge Leute scheinen das (warum wohl?) anzunehmen. Eine von mir schon viel zitierte Studentin fasste das schon vor Jahren in einer Übung, als ich ihr sagte, sie solle mal ihren Stift beiseitelegen und versuchen, die Sache zu verstehen, in prägnanter Kürze zusammen: „Je ne veux pas comprendre, je veux apprendre.“ [9]
Welche Paradigmen sollen also der Ausbildung künftiger Eliten (oh, ein garstig Wort, ich weiß) zugrunde gelegt werden? Bleiben wir (in der Chemie) bei Newton, Faraday, Darwin, Gibbs, Boltzmann, Schrödinger, auch einem Schuss Hilbert und heutzutage vielleicht Turing oder halten wir es künftig mit Meister Ding (der heutzutage wohl eher Knöpfchen drücken würde)? Was heute Studenten im Hörsaal erzählt wird, prägt ihr Denken für die nächsten Jahrzehnte. Auch außerhalb der Wissenschaften wären die Konsequenzen einer Abkehr vom analytischen Denken nicht abzusehen.
Wenn Strukturen, die den Dingen zugrunde liegen, nicht mehr erkannt werden, können auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede nicht mehr erkannt und genutzt werden (das sogenannte Querdenken), welches Querdenken oft aus der Erkenntnis gemeinsamer mathematischer Strukturen hervorgeht. Soll die Chemie sich zunehmend von diesem Denkschema abkoppeln und (wieder) zur reinen Erfahrungswissenschaft werden? Dass das gut wäre, möchte der Autor bestreiten, ungeachtet des klassischen Chinas; Needhams Werk ist aktueller denn je.

-> philippebopp@yahoo.com

Literatur
[1] Sima Qian (Ssu-ma Chien) 135-86 v. Chr, Vater der chinesischen Historiographie, der „chinesische Herodot“.
[2] Siehe The Needham Research Institute Cambridge http://www.nri.org.uk/
[3] Siehe z. B.Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Zhuangzi Dass dieses Werk in Europa so oft nebulös missdeutet wird (wie u.a. in (5) aufgezeigt), kann man ihm ja nicht vorwerfen.
[4] Siehe z. B. http://www.chinapage.com/story/butcher.html, auch: Jacques Pimpanau, Anthologie de la littérature chinoise classique, Editions Philippe Picquier, Arles, 2004 S. 35
[5] F. Heubel, http://www.dgphil2008.de/fileadmin/download/Sektionsbeitraege/08-2_Heubel.pdf
[6] Methode, Prinzip, rechter Weg; Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Dao
[7] Diese Beispiele sind nicht erfunden.
[8] Wikipedia https://en.wikipedia.org/wiki/Case_study
[9] Ich will nicht verstehen, ich will lernen.

L&M 2 / 2016

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 2 / 2016.
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