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Grenzgänger

Grenzgänger

Chemiker und Schriftsteller am Beispiel von Primo Levi und Walter E. Richartz

Viele talentierte und kreative junge Menschen sind bei der Berufswahl unschlüssig, welcher Berufung sie folgen und welchen Beruf sie ergreifen sollen. Viel schwieriger als eine Entscheidung innerhalb eines Faches der Natur-, Geistes-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie der schönen Künste ist die prinzipielle Entscheidung zwischen den Naturwissenschaften und anderen Disziplinen.

Oft treffen Multitalente eine klare Berufswahl und pflegen eine weitere Begabung lebenslang als Hobby. Nur wenige schaffen es, in zwei Welten mit der Doppelbelastung der Doppelbegabung zurechtzukommen und doppelt aktiv, kreativ und produktiv zu sein. Doppel- und Mehrfachbegabungen können Gnade und Fluch sein. Es gibt auch bedeutende Aus- oder besser Umsteiger nach Abschluss der Ausbildung oder auch nach längerer Tätigkeit im erlernten Beruf. Bekannte Doppelbegabungen, Grenzgänger zwischen Natur- und Geisteswissenschaften sind z.B. die Mediziner (als Poeten) Gottfried Benn, Arthur Schnitzler, Hans Carossa, Peter Bamm und unter den jüngeren Schriftstellern Uwe Tellkamp. Theodor Fontane, Hendrik Ibsen, Carl Spitzweg und Georg Trakl waren Apotheker. Georg Christoph Lichtenberg war Physiker; Robert Musil war Mathematiker und Hermann Broch absolvierte ein Doppelstudium Maschinenbau und Mathematik.

Viele Grenzgänger gibt es unter den Chemikern. Der Opernkomponist Alexander Borodin, der Regisseur Jean Luc Goddard, der Countrysänger Roger Whitaker oder auch die Fernsehleute Gerd Rugenbauer und Wieland Backes studierten Chemie. Michael Schindhelm, einige Jahre Generaldirektor der Berliner Opernstiftung, der auch in Dubai Kulturmanager war und eine Kulturmetropole aufbauen sollte, saß als Doktorand an der Akademie der Wissenschaften an einem Doppelschreibtisch mit Angela Merkel. Der Erfinder der Pille Carl Djerrassi hatte eine Literatin geheiratet und schrieb Romane, Autobiografien und Theaterstücke. Der Chemienobelpreisträger Roald Hofmann schreibt Gedichte und Theaterstücke (siehe Interview in labor&more 10.15). Der Bestsellerautor Hans Mario Simmel war gelernter Chemotechniker. Der in Damaskus geborene Chemiker Rafik Schami arbeitete in der Pharmaindustrie und ist ein glänzender Erzähler in deutscher Sprache. Der bekannteste Chemiker unter den Schriftstellern ist sicher Elias Canetti, der Nobelpreisträger des Jahres 1981. Er arbeitete nach dem mit „Auszeichnung“ bestandenen Doktor examen nie als Chemiker.

Der Mythos von den „Two Cultures“

Die These – der Mythos – von den „Two Cultures“, die sich fremd und gleichgültig gegenüberstehen, stammt von C. P. Snow. Der deutsche Anglist D. Schwanitz verstieg sich sogar zu der dummen Aussage: „So bedauerlich es manchem erscheinen mag: Naturwissenschaftliche Kenntnisse müssen zwar nicht versteckt werden, aber zur Bildung gehören sie nicht.“ Manche Menschen, die sich für gebildet halten, prahlen sogar damit, dass die MINT-Fächer schon immer ihre Schwäche gewesen seien. Der deutsche Soziologe R. Stichweh – ein Schüler von N. Luhmann – widerspricht diesem Mythos energisch: „Schon immer scheint ein unüberbrückbarer Graben literarische Intellektuelle und Naturwissenschaftler geistig voneinander zu trennen. Doch es ist ein Mythos, dass Naturund Geisteswissenschaften einander nicht verstehen – vielmehr führt die eine Disziplin zur anderen.“ (Siehe FAZ.net vom 30.03.2016: Die zwei Kulturen? Eine Korrektur.)

Doppelbegabungen: Primo Levi und Walter E. Richartz, „labor&more“

Primo Levi und W. E. Richartz, auf die ich näher eingehen will, waren nicht nur Doppelbegabungen, sondern über Jahrzehnte Fulltime- Angestellte – erfolgreich in der chemisch-pharmazeutischen Industrie – und schrieben ihre Romane, Biografien, Gedichte und Hörspiele an Abenden, Wochenende oder in den Ferien. Für sie war das berufliche Umfeld auch Quelle für Themen ihrer Werke.

Zunächst zu Primo Levi: Primo Levi wurde 1919 in Turin als Spross einer wohlhabenden liberalen jüdischen Familie geboren, die nach der Vertreibung der Juden aus Spanien um 1550 in der Lombardei sesshaft wurde. Der Vater Cesare war selbstständiger beratender Ingenieur und bei Primos Geburt 40 Jahre alt. Seine Mutter Ester stammte ebenfalls aus einer reichen jüdischen Familie. Primo lernte bis zum 18. Lebensjahr durch angeleitete Lektüre des Talmuds Hebräisch, was aber als reine Formalität aufgefasst wurde. Der Vater war ein sehr weltoffener Mann, der das Leben genoss und seinem heranwachsenden Sohn riet, zu rauchen, zu trinken und den Mädchen nachzulaufen. Primo aber war sehr abstinent und, obwohl empfänglich für den Charme junger Mädchen, aber zu schüchtern zum Flirten.

Ab 1934 besuchte Primo ein humanistisches Gymnasium. Mit 14 Jahren stand für ihn fest, Chemiker zu werden. „Von der Chemie versprach er sich nicht nur den Schlüssel zum Verständnis der Welt, sondern er empfand die Wissenschaft von der Materie als eine poetische Disziplin, die ihm in seiner Jugend mehr Entdeckungen und Inspirationen bot als die italienische Literatur“.

Dies schreibt seine Biografin Myriam Anissimov. Er selbst sagt in einem Gespräch: „Ich war zutiefst romantisch, und selbst in der Chemie interessierte mich im wesentlichen der romantische Aspekt: die Hoffnung, die Grenzen des Bekannten ganz weit zurückzuschieben, den Schlüssel der Welt zu entdecken, das Warum der Dinge zu begreifen!“

Schon früh lehnte Primo Levi die zu Mussolinis Zeiten im humanistischen Gymnasium vertretene Auffassung von der Existenz zweier Kulturen ab. Er schreibt: „ Für die Menschen meiner Generation war die Kluft zwischen diesen beiden Kulturen wirklich dramatisch. Meine Italienisch- Lehrerin, eine rechtschaffene Frau, sagte, nur die Literatur diene wirklich der Bildung. Sie behauptete ferner, die Naturwissenschaften seien nichts als informative Disziplinen. Als ich das vernahm, standen mir die Haare zu Berge!“
Levi schrieb sich an der Universität Turin für das Fach Chemie ein. Seine Hobbys, die Literatur, daneben aber auch Sport wie Tennis und Bergsteigen, füllten seine Freizeit aus. 1938 erließ die faschistische Regierung ein Rassegesetz, das es jüdischen Bürgern verbot, staatliche Hochschulen zu besuchen. Mithilfe liberaler Professoren schaffte es Levi, sein Studium mit der Note „Ausgezeichnet“ zu beenden. Sein Zeugnis trug jedoch den Vermerk „von jüdischer Rasse“.
Der Faschismus in Italien hat eine lange Geschichte und Benito Mussolini war sein Exponent. 1943 schlossen die Alliierten einen Waffenstillstand mit Marschall Badoglio. Mussolini, der als diktatorischer Ministerpräsident abgesetzt und inhaftiert worden war, wurde in den Abruzzen am Gran Sasso in einer spektakulären Aktion von deutschen Truppen und der SS befreit und ein faschistischer Reststaat Norditalien (Republik von Salo) wurde errichtet.
Levi schloss sich der „Resistenza“ und im Oktober 1943 einer Partisanengruppe (Giustizia e Liberta) im Aosta-Tal an. Die Gruppe wurde jedoch bald von faschistischen Milizen gefasst. Vor die Alternative gestellt, als Partisan sofort erschossen oder als Jude deportiert zu werden, gab Levi seine jüdische Abstammung zu. Er kam ins Übergangslager, das KZ Fossoli bei Modena, und wurde am 11.02.1944 in Viehwaggons nach Auschwitz deportiert. Von den 650 italienischen Juden, die mit ihm nach Auschwitz deportiert worden waren, überlebte er als einer von fünf insbesondere deshalb, weil er als Chemiker beim Aufbau der Buna-Werke in Monawitz eingesetzt war. Am 27.01.1945 wurde er mehr tot als lebendig befreit. Nach einer Irrfahrt durch Ost- und Mitteleuropa erreichte er total entkräftet erst am 19.10.1945 seine Heimatstadt Turin.
Diese schlimmen Jahre beschreibt Levi in zwei – wie er es nennt – autobiografischen Berichten „Ist das ein Mensch?“ (1947) und „Die Atempause“ (1963). Distanziert, fast wie in einem Laborjournal, beschreibt Primo Levi die Hölle von Auschwitz. Nicht um neue Beschuldigungen vorzubringen, habe er die Bücher geschrieben, sagt Levi, sondern als Dokument einiger Aspekte des menschlichen Seelenlebens. Nach nur kurzer Rekonvaleszenz fand Levi eine Anstellung bei dem mittelständischen Chemieunternehmen SIVA in Turin und nach Jahren im Labor wurde er Direktor des Unternehmens. Levi übt den Beruf des Chemikers mit Hingabe aus und schreibt, er fühle sich wie ein Schöpfergott, der Ordnung in das „Tohu w’a bohu“ des Universums brachte.


Abb.1 Primo Levi im Chemielabor
Quelle: http://pisandocharcos.net/wordpress/2014/02/el-escritor-
que-nunca-dejo-de-ser-quimico/


Abb.2 Erstausgabe des Buches
„Das Periodische System“
(Einaudi, 1975, pp. 261, ISBN 88-06-05373-6)


Abb.3 Der Chemiker Walter E. von Bebenburg als Schriftsteller Walter E. Richartz

Levi ist der Meinung, dass der Beruf des Chemikers ihm nicht nur in Auschwitz das Leben gerettet hat, sondern dass er ihm auch seine Arbeit als Schriftsteller verdankt, denn der Schriftsteller muss wie der Chemiker in der Lage sein, „zu trennen, abzuwägen und zu unterscheiden, wobei diese Übungen zur Beschreibung reeller und imaginärer Vorgänge gleichermaßen nützlich sind“. Wenn sich jemand wunderte, dass er mit Hauptberuf Chemiker auch Schriftsteller sei, antwortete er, er schreibe gerade deshalb, weil er Chemiker sei. Seine beiden Berufe ergänzten sich.
Primo Levi heiratete die Lehrerin Lucia, mit der er zwei Kinder hatte: Renzo und Lisa, zu denen er ein sehr gutes Verhältnis hatte. Sein bestes Buch ist wohl der autobiografische Roman „Il sistema periodico“, der 1975 erscheint und in dem er kunstvoll Episoden aus seinem Leben erzählt. Jedes Kapitel trägt den Namen eines chemischen Elementes, dessen Eigenschaften er in Beziehung zu den Personen setzt. Das Urteil von Saul Bellow lautete: „Wir alle sind auf der Suche nach dem Buch, das unbedingt als nächstes gelesen werden muss. Nach wenigen Seiten habe ich mich freudig und dankbar in ‚Das periodische System‘ vertieft. In diesem Buch ist nichts überflüssig; alles, was es enthält, ist wesentlich. Er ist wunderbar rein!“ Das „Imperial College London wählte das Buch zum „besten populären Wissenschaftsbuch“ aller Zeiten!
1977 steigt er aus dem Berufsleben aus und widmete sich ausschließlich der Schriftstellerei. In den folgenden Jahren erschienen: 1978 „Der Ringschlüssel“, 1982 „Wann, wenn nicht jetzt?“, 1984 „Zu ungewisser Stunde“, 1985 „Anderer Leute Berufe“, 1986 „Die dritte Seite“ und als letztes Werk vor seinem Tod 1986 „Die Untergegangenen und die Geretteten“.
Primo Levi, der den Selbstmord – auch den seines Freundes Jean Amery – in seinen Werken und in Interviews wiederholt verurteilte, schied am 11.04.1987 durch Sturz in den Aufzugschacht seines Hauses freiwillig aus dem Leben. Er war noch geschwächt durch eine Prostataoperation, das Leben in der Familie wurde ihm unerträglich. Er befand sich in einer Phase tiefer seelischer Depression. Als pflichtbewusster Mensch sah er es als seine Aufgabe, zusammen mit seiner Frau, seine gelähmte, starrsinnigen, ja tyrannischen 91-jährige Mutter sowie seine blinde Schwiegermutter in der Familie zu pflegen. Die drückende Last führte auch zu Spannungen mit seiner Frau Lucia. Empört war er auch über die Ansichten von Robert Faurisson, Holocaustleugner und speziell Ernst Nolte, der die Einzigartigkeit der Shoa – der quasi industriellen Vernichtung der Juden – leugnete und den Historikerstreit auslöste, zu dem er kurz vor seinem Tod noch in „La Stampa“ in einem Artikel „Das schwarze Loch von Auschwitz“ Stellung bezogen hatte.


Abb.4Walterchen mit Großmutter Mathilde Ludendorff und General Erich Ludendorff an dessen 70. Geburtstag


Abb.5 Der Autor mit dem Chemiker Walter E. von Bebenburg bei einem Umtrunk!

W. E. Richartz

Kurz will ich noch auf den Grenzgänger, die Doppelbegabung und Doppelexistenz W. E. Richartz eingehen, der bis kurz vor seinem Freitod als Chemiker arbeitete.

1970 wurde ich Leiter der präklinischen Forschung der Degussa-Pharmatochter. Zu den leitenden Mitarbeitern meines neuen Bereiches gehörte auch Dr. Walter von Bebenburg – so stand es an der Bürotür. Sein voller Name lautete Dr. Walter Freiherr Karg von Bebenburg. Er war als Chemiker erfolgreich. In seinem Labor wurde das auch heute noch im Handel befindliche Analgetikum Katadolon® entwickelt.
Zu der Zeit, als ich sein direkter Chef und Büronachbar war, schaffte er gerade den Durchbruch als Schriftsteller unter dem Pseudonym W. E. Richartz (W.E.R); seine Bücher erschienen im bekannten Diogenes-Verlag. W.E.R war in Wirklichkeit kein Pseudonym, sondern sein richtiger Geburtsname. Er entstammte der reichen Fabrikantenfamilie Richarz, die in Norddeutschland Gerbereien betrieb und Großgrundbesitz hatte. Er wurde 1927 in Hamburg als Sohn des Korvettenkapitäns Karl Walter Richartz* und der Geflügelzüchterin und Pferdepflegerin Ingeborg von Kemnitz auf dem Richartzen Familiengut Griemshorst bei Stade geboren. Väterlicherseits stammte die Familie aus dem Rheinland; zu ihr gehörte auch der Zustifter des Walraff-Richartz-Museums in Köln J. H. Richartz. Der Vater war ein früher Aussteiger, der das renommierte Unternehmen der Lederbranche in Stade nicht übernehmen wollte. Die Mutter war eine frühe „Alternative“ und Tochter des Zoologen Adolf von Kemnitz und dessen Frau Mathilde, geb. Spieß. Mathilde Spieß (1877 – 1966) war hochintelligent, ehrgeizig und durchsetzungsfähig. Als eine der ersten Frauen schloss Sie ihr Medizinstudium ab und wurde bei dem bekannten Psychiater Kraepelin promoviert. Sie war politisch sehr interessiert und vertrat einen völkischen Feminismus. Sie entwickelte Verschwörungstheorien gegen Freimaurer, Jesuiten und Juden. Sie befürwortete die Rassengesetze. 1926 wurde sie die zweite Ehefrau des Generalfeldmarschalls Erich Ludendorff (1865–1937). Die Ehe der Eltern ging sehr bald in die Brüche; den Vater sah er mit 22 Jahren bewusst zum ersten Mal. Er wurde überwiegend von den Großeltern Ludendorff sehr streng erzogen, quasi ein Versuchskaninchen für die wirren Vorstellungen der Großmutter, die das Buch „Des Kindes Seele und der Eltern Amt“ verfasst hatte.
W.E.R’s Mutter Ingeborg heiratete den unbelehrbaren völkischen Rechtsextremisten Franz Freiherr von Bebenburg. Er adoptierte den Sohn seiner Frau. W.E.R besuchte später eine Walldorf- Schule und wurde auch noch kurz Soldat an der Ostfront und russischer Kriegsgefangener. Er floh aus dem Lager und schlug sich nach Bayern durch.
Vielleicht um der Tradition zu entfliehen, aber auch aus Neigung studierte er erst in München und dann in Hamburg Chemie, wo er dann 1955 promoviert wurde. Er war ein ziemlich linker Student – lange vor 1968 –, Jazzfan und Herausgeber der linken Studentenzeitung. 1957 verließ er Hamburg und ging, zum zweiten Mal frisch verheiratet, an die Ohio-State-University nach Columbus (Ohio). 1961 kehrte er mit Frau und Sohn nach Deutschland zurück, trat seine Stelle als Forschungschemiker im „Chemiewerk Homburg“ an und lebte mit Frau und nun zwei Söhnen in der Nähe von Frankfurt.
Seine Doppelbegabung, sein Doppelleben mit der Doppelexistenz blieb seinen Kollegen weitestgehend verborgen. Von seiner Jugend erzählte er nie. Erst als er als Schriftsteller reüssierte, wurden seine „vita“ bruchstückhaft bekannt.
Er war Mitgründer des Frankfurter „patio- Verlages“, einem bibliophil orientierten Kleinverlag. Die Doppelexistenz war für ihn wie eine Batterie mit einem Kraftfeld aus zwei Polen. Die meisten Themen seiner Bücher und Hörspiele haben Bezug zur Branche, zur Firma und sind wirklichkeitsnah. So der Büroroman oder die Bücher „Tod den Ärzten“ und „Reiters westliche Wissenschaft“. In der Kurzgeschichte „Tennis und China“ verarbeitete er den Selbstmord eines Laboranten der Abteilung. Die Hörspiele „Krankfeiern“ und „Die Spitzensubstanz“ spielen im Berufsumfeld. Seine Beiträge „Literatur Chemie, Versuch ...„ sind bewusst wirr und sollen wohl das „Nichtverstehen“ der „two cultures“ belegen. Ende der 70er-Jahre Jahre schien er der Doppelexistenz nicht mehr gewachsen zu sein und er äußerte mir gegenüber, er wolle einen Schnitt in seinem Leben machen und sich ganz der Schriftstellerei widmen. Wir fanden rasch eine für ihn sehr großzügige Vorruhestandsregelung. Dass der Schnitt größer war als nur die Aufgabe des Chemikerberufes, erfuhren seine Kollegen erst später, ebenso, dass er verschiedene Phasen der Depression durchlitten hatte, vielleicht sogar von Psychopharmaka abhängig war. Er trennte sich auch von seiner Familie und zog nach „Schloss Hungen“, seinem Künstlerdomizil. Er wurde nicht glücklich in seiner neuen Existenz. Ihm fehlten wohl die freiwillig aufgegebenen menschlichen Beziehungen, seine Familie, seine Kollegen. Mitte Februar 1980 schied er freiwillig aus dem Leben. Er fuhr mit dem Zug in den Spessart, ging in ein einsames Waldstück und beging mit Cyanid und einer Flasche Chablis Selbstmord. Die Fahrkarte vermerkt den Todestag.
Seine Tagebücher werden zurzeit von dem Münchener Germanisten Sven Hanuschek bearbeitet und sollen publiziert werden. Seine Werke sind fast alle noch im Buchhandel, überwiegend im Diogenes-Verlag/Zürich erschienen.

-> heppoff@gmx.de

Literatur
[1] Frühwald, W. (2006) Doppelbegabungen in Wissenschaft und Kunst, Chem. Unserer Zeit 40, 194–198
[2] Fertig, L. (1966) Abends auf den Helikon, Suhrkamp- Taschenbuch
[3] Anissimov, M. (1999) Primo Levi. Die Tragödie eines Optimisten. Eine Biographie, Philo Verlag, Berlin
[4] „Die Horen“: Doppeltalente – Günter Grass & Walter E. Richartz – Hommage und Memorial, 52. Jahrgang (2007), Band 3, Ausgabe 227
[5] Offermanns, H. (2012) W. E. Richartz, W. von Bebenburg – Schriftsteller und Chemiker, Chem. Unserer Zeit 46, 158–159
[6] Hanuschek, S. (2012) Walter E. Richartz hat anders getickt als die anderen, aber sehr leise, Chem. Unserer Zeit 46, 160–166

L&M 4 / 2016

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 4 / 2016.
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