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Mit Blick zurück in die Zukunft

Die Evolutionsmedizin als ein Schlüssel für ganzheitliche Ernährung und bessere Gesundheit

Die kargen Verhältnisse der Steinzeit brachten diemenschliche Vorliebe für energiedichte Nahrungsmittel hervor. Moderne Verhältnisprävention muss unser evolutionäres Erbe berücksichtigen, um erfolgreich zu sein.

Paläo-Ernährung klingt gesund, natürlich und – paradoxerweise – modern. Aber wollen wir wirklich wieder so essen wie in der Steinzeit? Unsere Vorfahren kämpften um jede Kalorie und um ihr Leben. Tausende Generationen verschiedener Hominiden gruben nach Wurzeln, suchten Aas an Flussläufen, stopften sich Beeren und Käfer in den Mund. Satt wurden sie selten. Und sie starben früh, meist an Verletzungen und nachfolgender Infektion.
Nein, wir wollen nicht zurück. Aber der Blick in unsere Vergangenheit lohnt dennoch. Millionen Jahre Mangel formten den menschlichen Körper. Das aktuelle Modell Homo sapiens entstand vor etwa 200.000 Jahren in den kargen Steppen Ostafrikas und ist seither weitgehen unverändert in Betrieb. Unsere Physiologie ist optimiert auf das Überleben bei knappen Ressourcen, hohe Energieeffizienz, geringen Verbrauch und große Speicherkapazität.

Im Überfluss der Moderne ertrinken wir in Kalorien

Zum ersten Mal in der Geschichte des Homo gibt es nun seit etwa 60 Jahren immer genug zu essen. Was immer wir wollen, seit Kurzem sogar, ohne dafür auch nur die Wohnung verlassen zu müssen.
Wir haben die Kontrolle über unsere Umwelt übernommen und fast paradiesische Zustände erschaffen – zumindest in vielen Regionen der Welt und für breite Bevölkerungskreise. Es war sicher niemals angenehmer als heute, ein Mensch auf Erden zu sein. Beim Entwurf moderner Lebenswelten sind wir vor allem dem evolutionär verständlichen Wunsch nach Bequemlichkeit (Energiesparen) und Genuss (energiedichte Lebensmittel) gefolgt.
Wir essen zu viel, zu süß, zu salzig und zu fett. Übergewicht, Bluthochdruck, Diabetes und schließlich der Herzinfarkt bilden nur eine der darauf folgenden fatalen Konsequenzketten. Daran sind wir aber nicht alleine schuld. Der starke Impuls, energiereiche Nahrung zu suchen und zu verschlingen, steckt in uns.
Fett, süß und salzig sind Gedanken, denen ein hungriges Gehirn nicht widerstehen kann. Bilder von Pizza, Chips und Cola reichen aus, um archaische Handlungsreize in Gang zu setzen. Entwicklungsgeschichtlich alte Hirnregionen, Amygdala, Hippocampus und Hypothalamus, Sitz von Antrieb, Emotion und Impulsen, werden aktiv. Was die moderneren Hirnregionen des Neocortex, Orte des Bewusstseins und der Vernunft, davon zu spüren bekommen, ist ein imperatives Verlangen: Appetit und Hunger. Stark genug, das wärmende Feuer und die Horde zu verlassen und sich dem Säbelzahntiger zu stellen. Allemal stark genug, gute Vorsätze über Bord zu werfen und den Kühlschrank zu öffnen.
Unseren von der Evolution geschliffenen Vorlieben dürfen wir wohl nur soweit trauen, als sie uns drängen, satt zu werden, auszuruhen und auch unter den widrigsten Umständen möglichst viele Nachkommen zu zeugen. Wer isst, was er will, ohne darüber nachzudenken, wird wahrscheinlich krank. Noch nie mussten sich Lebewesen gegen den Überfluss und Trägheit als Bedrohung wappnen.


Abb.1 Evidenzbasierte Ernährungsempfehlungen für die kardiometabolische Gesundheit. Die Positionierung jedes Lebensmittels basiert auf seinem Nettoeffekt über alle Risikowege und klinischen Endpunkte. Für nicht gelistete Faktoren (z.B. Kaffee, Tee, Kakao) reicht die
verfügbare Evidenz nicht für eine klare Empfehlung aus.
Bild: modifizierte Wiedergabe aus [5]

Evolutionsmedizin ist ein neuer Zweig der medizinischen Forschung

Die Molekulargenetik ermöglicht es uns seit Kurzem, genau und preisgünstig im Bauplan des Lebens zu lesen. Indem wir die uralten Patente einzelner Funktionssysteme des Organismus analysieren, erfahren wir, was diesen Systemen schadet und was sie gesund erhält. Um zu verstehen, wofür der Körper konstruiert ist, müssen wir immer wieder in die Vergangenheit zurücksehen. Manchmal nur ein paar Tausend Jahre, manchmal auch viele Hundert Millionen.
In den rund 25.000 Genen unseres Genoms zu stöbern reicht nicht aus, um daraus individuelle Gesundheitsprognosen abzuleiten. Zu komplex ist das Wechselspiel der Gene mit Proteinen, Stoffwechselprodukten, den Zellen, zu komplex ist das Zusammenwirken der Organe mit den Lebensbedingungen, denen wir ausgesetzt sind.
Gene sind im Austausch mit der Umwelt entstanden und nur in dieser Auseinandersetzung zu verstehen. Der Mensch samt seiner Gesundheit
und Krankheit ist Teil eines umfassenden Systems, so wie seine Entstehung stets durch die Umstände getrieben war. Evolutionsmedizin
hat deswegen die gesamte Entwicklungsgeschichte des Menschen im Blick, seine in den Genen fixierte Biologie, schädigende und fördernde Einflüsse aus der Umwelt sowie sein Verhalten darin. Es ist ganzheitliche Medizin
im eigentlichen Sinn.
Die Generalsekretärin der WHO, Dr. Margret Chan, hat auf dem World Health Summit im vergangenen Oktober in Berlin festgestellt, dass
Übergewicht und Bewegungsmangel die Infektionskrankheiten als größte Gesundheitsgefahr abgelöst haben. Mehr Menschen leiden weltweit unter den Folgen übermäßiger Kalorienzufuhr als an Mangelernährung.
Ärzte werden die Welt nicht vor dieser Bedrohung retten. Kardiologen können nicht alle Herzinfarkte verhindern, Ernährungsmediziner nicht jeden Adipösen behandeln. Menschen werden massenhaft krank, weil die Lebensumstände nicht zu unserer uralten Biologie passen. Aufklärung, Bildung und Befähigung zu selbstverantwortlichem Handeln sind die bessere Strategie zur Vorbeugung.
Wir sind von Natur aus viel und alles fressende Energiesparer mit entsprechenden Neigungen, die sich ihr Schlaraffenland erschaffen haben. Und nun haben wir ein Problem damit. An Fettspeicherung per se ist nichts verkehrt, solange wir es auch wieder loswerden. Bis vor 60 Jahren und davor Millionen Jahre lang gelang dies leicht, heute nicht mehr.
Übergewicht ist in wenigen Generationen von einem seltenen zu einem massenhaften Phänomen und einer Bedrohung geworden. Unser Körper hat sich in dieser Zeit nicht geändert. Wir sind noch dieselben, mit der gleichen Physiologie, den gleichen Genen. Unser imperativer Appetit, unsere Fähigkeit zu essen und die Energie für später zu speichern, unsere Vorliebe für Fettes, Salziges und Süßes, und auch die Bequemlichkeit – all das ist durch und durch menschlich und normal. Nur unsere Lebensumstände haben sich geändert. Was uns krank macht, ist nicht in uns, sondern überall um uns herum.
Mediziner müssen die biologischen Mechanismen des Körpers aufklären und die Bevölkerung darüber informieren. Es ist die Aufgabe der Politik, die gewonnenen Erkenntnisse in gesunde Verhältnisse zu übertragen. Maßnahmen zur Gesunderhaltung müssen zu dem Zeitpunkt beginnen, an dem der schädigende Einfluss beginnt. Sämtliche Lebensbereiche sind auf ihre gesundheitlichen Folgen zu überprüfen. Städtebau, Arbeitswelt, Bildungssystem, Nahrungsmittelproduktion und Emissionsschutz bedürfen der Anpassung. „Gesundheit in allen Lebensbereichen“ (Health In All Policies) ist der dafür geprägte Ausdruck.


Bild: Daniela Kölbl – aus „Die Gesundheitsformel“, Knaus Verlag, Verlagsgruppe Random House GmbH

Wir wollen nicht in einer Welt der Verbote gegen unsere Natur leben

Gesundheitsterror und Bevormundung sind auch nicht notwendig, ebenso nicht viel Geld. Ein Beispiel: Es würde nichts kosten und man würde nichts vermissen, wenn Milliarden teure, globale Werbekampagnen eingeschränkt würden, die Kindern den Konsum stark gezuckerter, koffeinhaltiger Getränke schmackhaft machen. In Deutschland lagen die Werbeausgaben von Coca Cola im Jahr 2014 bei 151,5 Mio. Euro. Die mit steigendem TV-Konsum höhere Prävalenz von Übergewicht bei Kindern ist Studien zufolge weniger dem Bewegungsmangel geschuldet, als viel mehr veränderten Nahrungsvorlieben entsprechend den gesehenen Werbefilmen [1,2].
Epidemiologische Untersuchungen haben den direkten Zusammenhang von Zuckergetränken und Fettleibigkeit mehrfach gezeigt. In einer aktuellen Analyse [3] der Framingham Heart Study über sechs Jahre führte allein ein Glas Cola täglich im Vergleich zur Kontrollgruppe zu einer um 25 % stärkeren Zunahme des stoffwechselgefährlichen Bauchfettes. Britische Epidemiologen berechneten [4], welche Auswirkungen eine schrittweise 40%ige Reduktion von Zucker in süßen Getränken innerhalb von fünf Jahren hätte: Es würden durchschnittlich 38,4 kcal pro Tag weniger aufgenommen, was zu einem Gewichtsverlust von 1,2 kg pro Einwohner führte. Die Prävalenz von Übergewicht ginge um 1 % zurück (von 35,5 % auf 34,5 %), die von Adipositas um 2,1 % (von von 27,8 % auf 25,7 %).
Das Ergebnis: 500.000 weniger übergewichtige und 1 Mio. weniger adipöse Briten, was in den darauf folgenden zwei Dekaden zwischen 274.000 und 309.000 adipositasassoziierte Fälle von Typ-2-Diabetes verhindern würde. Bei Heranwachsenden, jungen Erwachsenen und Personen aus Familien mit niedrigem Einkommen, die mehr Zuckergetränke konsumieren, wäre der Effekt am stärksten.

„Dort, wo das Leben auf der Erde begann, liegt heute der Schlüssel
für eine bessere Gesundheit.“
-Prof. Dr. Detlev Ganten

Die wesentlichste Zutat einer echten Paläo-Ernährung ist: Wasser. Mit kalorienfreier Flüssigkeit wurde während der gesamten Evolution der Durst aller Tiere und Menschenarten gelöscht. Darauf sind alle unsere biologischen Mechanismen eingestellt. Erst die Industrie hat sich unsere Vorliebe für Süßes zunutze gemacht und drängt uns ihre ungesunden Zuckerwasserbomben unter verschiedenen Markennamen auf. Soft-Drinks machen dick, aber nicht satt. Sie helfen nicht einmal gut gegen den Durst. Das einzig Positive, das man über sie sagen kann, ist, dass sie manchen Menschen, die sich an sie gewöhnt haben, schmecken.

Mit immer vollen Energiespeichern hat die Evolution nicht gerechnet

Wir müssen uns gegenseitig helfen, unsere Energie abzubauen. Alle zusammen. Jeder trägt sein kleines Stück Bewegung bei. Beim Häuserbau sollte das Treppenhaus der normale, der „schöne“ Weg in die oberen Etagen sein. Dort sollten Bilder aufgehängt und Fenster sein. Rolltreppen und Lifte sind für Gehbehinderte wichtige Hilfsmittel – und verdienen genau dieses Image. Beim Städtebau gilt: zu Fuß gehen oder „Fahrrad first!“.
Es muss leichter gemacht werden, gesunde Entscheidungen zu treffen. Vor allem dort, wo die Entscheidung darüber fällt, was gegessen wird: im Supermarkt. Was erst einmal im Kühlschrank liegt, wird auch verbraucht.
Eine verständliche Kennzeichnung von Lebensmitteln über deren Energiegehalt ist ein wichtiger erster Schritt. Gesundes muss günstig und prominent platziert sein. Die Wirkung einer Fett- und Zuckersteuer wird noch kontrovers diskutiert.
Um Übergewicht in einer Gesellschaft in den Griff zu bekommen, werden nicht noch mehr Fachärzte für Adipositas gebraucht. Wir brauchen Umweltreformen, die uns vor dem Ertrinken in Kalorien schützen. Eine einzelne Maßnahme kann das nicht erreichen. Es gibt auch keine Veränderung, auf die sich alle verlassen können, die uns rettet oder schützt. Es geht darum, eine neue Kultur der Freude an Bewegung und gesunder Ernährungsweise zu entwickeln, die alle Lebensbereiche erfasst und von allen Menschen getragen wird. Eine Kultur, die die bereits etablierte Kultur der Bequemlichkeit und des Kalorienüberflusses durchbricht und ersetzt.
Die Ernährungsmedizin hat in den letzten beiden Dekaden enorme Fortschritte gemacht. Ihre Empfehlungen fokussieren nicht mehr auf einzelne Nährstoffe, sondern stellen bestimmte Nahrungsmittel und Ernährungsweisen in den Mittelpunkt. Die beste Evidenz für positive Gesundheitswirkungen, insbesondere zur Vermeidung von kardiovaskulären Erkrankungen und Übergewicht, gibt es für möglichst gering verarbeitete Lebensmittel wie Früchte, Nüsse, Samen, Gemüse (außer Kartoffeln), Hülsenfrüchte, Vollkornprodukte, Meeresfrüchte, Fisch, Joghurt und Pflanzenöle. Der Gesundheit eher abträglich sind dagegen hochverarbeitete Produkte: Backwaren und Pasta aus Weißmehl, (gesalzene) Wurst und Nahrungsmittel mit zugesetztem Zucker oder hohem Stärkeanteil.
Diese aktuellen evidenz-basierten Ernährungsempfehlungen [5] stimmen zum großen Teil mit den Vorstellungen einer Paläo-Diät überein. Zu essen wie in der Steinzeit taugt also durchaus als grobe Richtschnur. Im Gegensatz zu extremen Steinzeit-Auslegungen ist es aber nicht nötig, auf Kohlenhydrate komplett zu verzichten; ebenso sollte rotes Fleisch nur in Maßen genossen werden. Die Vorfahren haben ja nicht jeden Tag ein Mammut erlegt und öfter auch wildes Getreide gefunden. Zum reinen Fleischfresser zu werden, ist sicher nicht empfehlenswert.
Menschen haben in allen Winkeln der Erde immer von dem gelebt, was es dort eben zu essen gab. Robben am Polarkreis, Wurzeln in der Steppe. Eine „beste“ Ernährungsweise, einen idealen Makronährstoff-Mix, auf den alle Menschen genetisch festgelegt sind, gibt es wahrscheinlich nicht. Eine weitgehend natürliche Ernährung und wahre Paläo-Diät besteht darin, möglichst unverarbeitete Produkte zu essen, die nicht zusätzlich gesüßt oder gesalzen sind. Am besten solche, die es gerade der Jahreszeit entsprechend auf dem regionalen Markt zu kaufen gibt und auf die man Appetit hat.


-> detlev.ganten@charite.de
-> j.niehaus@focus-magazin.de

Literatur
[1] Robinson, T.N. (1999) JAMA 282, 1561–1567
[2] Epstein, L.H, Roemmich, J.N, Robinson, J.L. (2008) Arch Pediatr Adolesc Med. 162, 239–245
[3] Jiantao, M. et al. (2016) Circulation, 2016 Jan 11. pii: CIRCULATIONAHA.115.018704 [Epub ahead of print]
[4] Yuan M. et al. (2016) The Lancet Diabetes & Endocrinology, Published Online: 06 January 2016 DOI: http://dx.doi.org/10.1016/S2213-8587(15)00477-5
[5] Mozaffarian, D. (2016) Circulation 133,187–225

L&M 1 / 2016

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 1 / 2016.

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