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Stress - Ursachen und Intervention

Stress - Ursachen und Intervention

Juliane Hellhammer, DAaCRO GmbH & Co. KG und Prof. Dr. Dirk Helmut Hellhammer, Abteilung Theoretische und Klinische Psychobiologie, Universität Trier

Jeder kennt Stress. Zeitdruck überall – es warten Termine, Reisen, Sitzungen und zu Hause Kinder, Schularbeiten, Haushalt, Freizeitaktivitäten. Zahlen des Internationalen Arbeitsamts belegen, dass ca. 75 % der Beschäftigten in europäischen Unternehmen unter Stress leiden, mit zunehmender Tendenz, und so werden 30 % der Arbeitsunfähigkeit heute bereits ursächlich auf Stress zurückgeführt. Aktuelle Zahlen aus Frankreich zeigen beispielsweise, dass dort 44 % der Einwohner und 65 % der Angestellten über Stress klagen. Folgen sind u. a. psychische und somatische Störungen wie Schlaflosigkeit, Angstzustände, Burnout bis zur Depression. Unsere Nachbarn konsumieren pro Jahr 65 Mio. Schachteln Antidepressiva. Angesichts dieser Zahlen überrascht nicht, dass bei uns in Deutschland bereits mehr Menschen durch Selbstmord sterben, als durch Verkehrsunfälle, Drogenmissbrauch, Aids und Gewalttaten zusammen.

Psychische und körperliche Stressreaktionen

In unserer gesamten Entwicklungsgeschichte mussten wir uns an spezifische Umweltbedingungen anpassen. Mittels Hormon- und Nervensystem lernten wir uns rasch Belastungssituationen anzupassen und unsere psychischen und physischen Funktionen so zu optimieren, dass die Selbst- und Arterhaltung gewährleistet waren. Diese „Hardware“ funktioniert immer noch, auch wenn die Anforderungen ganz anders geworden sind. Dazu ein Bild zu den Zeitrelationen: Stellt man sich einmal einen 70-Jährigen vor, der 69,9 Jahre seines Lebens als Jäger, Sammler und Nomade gelebt hat, dann würde man ja auch nicht erwarten, dass er sich in wenigen Wochen auf die Anforderungen des modernen Lebens einstellen kann. So reagieren wir auch heute am Schreibtisch bei Stress noch so wie immer, wie es z. B. für Kampf- oder Fluchtreaktionen einmal sinnvoll war. Unser Herz-Kreislaufsystem wird aktiviert, die Atemwege ebenso, die Muskulatur wird durchblutet und das Gehirn wird mit dem Energielieferanten Glukose versorgt, um optimal arbeiten zu können. Wenn wir Menschen unter Stressbedingungen beobachten, wird es allerdings weit komplizierter. Zum einen müssen wir erkennen, dass das subjektive Stresserleben und die körperliche Stressreaktion nicht oder kaum miteinander korrelieren. Das heißt, dass das, was der Patient seinem Arzt berichten kann, höchstens die Hälfte der Wahrheit ist. Und es gibt Patienten, die gar nicht wissen, dass Stress ihre Körperfunktionen strapaziert, weil schon bei kleiner Belastung ausgeprägte Körperreaktionen stattfinden. Das bedeutet schon einmal grundsätzlich, dass man stets psychologische und biologische Masse braucht, um Stress erfassen und beurteilen zu können. Aber es wird noch komplizierter: Jeder von uns hat eine individuelle Lerngeschichte, auf deren Basis er Stress mehr oder weniger gut bewältigen kann. Jeder von uns hat auch eine individuelle biologische Ausstattung, von der abhängt, wie stressvulnerabel Gehirn und Körperorgane sind. Und so kommt es, dass selbst bei Menschen mit gleichen psychischen und/oder körperlichen Stresssymptomen ganz unterschiedliche Konstellationen von psychischen und biologischen krankheitsrelevanten Faktoren vorliegen. Erst das komplexe Zusammenspiel aller dieser Faktoren entscheidet im Einzelfall über die Ausprägung der Symptome. In anderen Worten: Durch die hohe intraindividuelle Komplexität ergibt sich eine große interindividuelle Heterogenität der Krankheitsursachen. Diese sind keineswegs statisch, sondern ändern sich mit der Dauer und Intensität der Stressbelastung. Man hat daher vorgeschlagen, von der klassischen Nosologie abzurücken und mit Endophänotypen zu arbeiten. Das bedeutet, dass bestimmte physiologische Subsysteme im Gehirn und in Körperorganen, welche am Krankheitsgeschehen partizipieren, identifiziert und ihr Aktivitätszustand über Biomarker sowie spezifische psychische und körperliche Symptome gemessen wird. Die Diagnose sieht dann so aus, dass einige an den Stresssymptomen beteiligte Subsysteme identifiziert werden können und eine spezifische Indikation für psycho- und pharmakotherapeutische Maßnahmen erfolgen kann. Monatlich erscheinen nun mehr als hundert Arbeiten, welche für das Verständnis dieser Subsysteme unmittelbar relevant sind. Es ist also erforderlich, dass das Repertoire an Messmöglichkeiten ständig optimiert wird.










Messungen im Humanlabor

Um die am Stressgeschehen beteiligten Mechanismen zu erfassen, haben wir in Trier den Trier Social Stress Test (TSST) entwickelt, ein standardisiertes Verfahren, welches heute, nach nahezu zwanzig Jahren, als Goldstandard gilt (Dickerson & Kemeney, 2004). Die Versuchspersonen und/oder Patienten werden von zwei hinter einem Schreibtisch sitzenden Personen aufgefordert, in einem fiktiven Vorstellungsgespräch ihre Vorzüge zu preisen und anschließend Rechenaufgaben zu lösen. Diese Situation und das Verhalten der Versuchsleiter sind so angelegt, dass sich eine robuste biologische und psychische Stressreaktion zeigt. Biologisch zeigen sich markante Reaktionen in der Freisetzung von Hormonen (u. a. von ACTH, gesamtem und freiem Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin, Prolaktin, Wachstumshormon etc.), autonomen Parametern (deutliche Anstiege bei Herzrate, Blutdruck, Atemfrequenz etc.), Immunparametern (z. B. Interleukin- 6, TNF), Gerinnungsfaktoren und der Psychomotorik (Sprachmotorik, Bewegungsapparat). Psychometrische Verfahren zur Messung von Angst, Wohlbefinden und Stresserleben ergänzen das Methodenspektrum. Neuerdings wurde gezeigt, dass eine ganze Reihe dieser Parameter mit genetischen und epigenetischen Einflüssen variieren. So fanden wir z. B. bei Personen mit bestimmten Polymorphismen der Gene für den Glukokortikoid- und Mineralokortikoidrezeptor ganz unterschiedliche Reaktionsprofile im TSST. Caspi et al. (2004) konnten anhand des Serotonin-Transporter-Gens zeigen, dass ein bestimmter Polymorphismus die Stressvulnerabilität beeinflusst. Diese Personen neigen zu Depressionen, aber erst dann, wenn sie Stressbelastung ausgesetzt waren. In der Zwischenzeit sind zahlreiche derartige Zusammenhänge bei Mensch und Tier beschrieben worden, welche interessanterweise besonders in den frühen Reifungsphasen des Gehirns wirksam werden. Das hat dazu geführt, dass nun erste Erfahrungen zur Genexpression im TSST vorliegen, welche an Lymphozyten untersucht wurden. Es zeigen sich charakteristische Veränderungen, von welchen eine Mehrzahl wohl auf Cortisoleffekte zurückgeführt werden können. Aber es zeigen sich auch andere unerwartete Veränderungen, denen weiter nachgegangen wird. Diese Untersuchungen zeigen nun, dass sich bestimmte psychobiologische Reaktionsprofile durch anxiolytische oder antidepressive Substanzen beeinflussen lassen. Aber auch psychotherapeutische Interventionen verändern diese Reaktionsmuster. Das Auftragsforschungsinstitut daacro – diagnostic assessment and clinical research organisation – GmbH & Co. KG in Triers Wissenschaftspark beispielsweise bietet den TSST als Modulsystem an, um genaue Wirkprofile zu ermitteln. Auf diese Weise gelingt es recht genaue Vorhersagen zu treffen, ob es sich lohnt eine bestimmte Substanz weiter zu entwickeln, auf welche Subsysteme sie wirkt und welche Personen davon besonders profitieren können.

Vom Labor in die Praxis

Vor acht Jahren begann die Arbeitsgruppe um Professor Dr. Dirk Hellhammer an der Universität Trier mit NeuropatternTM eine völlig neue Stressdiagnostik für die klinische Praxis zu entwickeln. Das Verfahren reduziert die fehlende Kovarianz zwischen psychischer und körperlicher Stressreaktion, indem es ausschließlich die Aktivität von solchen Schnittstellen misst, welche an der endokrinen und autonomen Kommunikation zwischen Gehirn und übrigen Körperorganen partizipieren. Der Fokus auf diese Schnittstellen erlaubt überdies, dass die Komplexität beträchtlich reduziert werden kann, denn es interessiert nicht, wodurch im Einzelfall die Schnittstellen aktiviert wurden, sondern nur ob und in welchem Ausmaß das geschieht. Jede Schnittstellenaktivität wurde endophänotypisiert und über das gleichzeitige Auftreten biologischer, psychologischer und symptomatischer Messungen operationalisiert. Das geschieht wie folgt: Hat ein Arzt den Verdacht, dass Stress das Gesundheitsgeschehen bei seinem Patienten beeinflusst, kann er ein Diagnosekit verschreiben. Er selbst notiert dann in vorgegebenen Fragebögen kurz die Krankheitssymptome, Vorerkrankungen und Behandlungsmaßnahmen. Der Patient geht dann nach Hause und füllt weitere Fragebögen aus. Im heimischen und/oder beruflichen Umfeld erhebt er dann die biologischen Daten. Zu diesem Zweck beinhaltet das NeuropatternTM-Kit ein kleines tragbares EKG-Gerät zur Ermittlung der Herzratenvariabilität sowie 16 Sammelgefäße zur Bestimmung von Cortisol und a-Amylase im Speichel. Während der Speichelsammlung nimmt der Patient einmalig eine niedrige Dosis von Dexamethason ein, um den Status der Hypothalamus-Hypophysen- Nebennierenrinden- Achse genauer zu erfassen. Anschließend schickt der Patient alle Materialien nach Trier, wo die Auswertung erfolgt. Aus der Auswertung ergibt sich ein individuelles Krankheitsmodell, aus welchem sich spezifische psychound pharmakotherapeutische Maßnahmen ableiten lassen. Dieses bekommt der behandelnde Arzt zur Verfügung gestellt. NeuropatternTM kann also Ärzten verschiedenster Disziplinen auf stets aktuellem Wissensstand sehr konkrete Hinweise liefern, sodass diese ihre therapeutischen Maßnahmen verbessern können.

Ausblick

Schon jetzt erhalten molekularbiologische Verfahren Einzug in die Stressforschung. Sie werden dazu beitragen, dass wir die Mechanismen der Stressreaktion besser verstehen, messen und beeinflussen können. Im Tierexperiment ist es der Arbeitsgruppe von Michael Meaney bereits
gelungen, über Demethylierung epigenetische Programmierungen des Glukokortikoid-Rezeptor-Gens aufzuheben (Weaver et al., 2004). Die Bildgebung ist ein weiteres Werkzeug, welches in Kombination mit Stressprovokation oder bei psychisch/psychosomatisch Kranken Erkenntnisgewinn verspricht. Mit NeuropatternTM besteht letztlich ein Werkzeug, welches einen engen Austausch zwischen psychobiologischer Grundlagenforschung und klinischer Brauchbarkeit ermöglicht. All das
wird helfen, das Phänomen Stress besser in den Griff zu bekommen.

Literatur:
[1] Caspi A, Sugden K, Moffitt TE, Taylor A, Craig IW, Harrington H, McClay J, Mill
J, Martin J, Braithwaite A, Poulton R. (2003). Influence of life stress on depression:
moderation by a polymorphism in the 5-HTT gene. Science, 301(5631):386-9.
[2] Dickerson SS & Kemeny ME (2004). Acute stressors and cortisol responses: a
theoretical integration and synthesis of laboratory research. Psychol Bull 130,
355–391.
[3] Hellhammer, DH & Hellhammer, J (Ed) (2008). Stress: The Brain-Body
Connection. Karger: Basel.
[4] Weaver IC, Cervoni N, Champagne FA, D'Alessio AC, Sharma S, Seckl JR, Dymov
S, Szyf M, Meaney MJ (2004). Epigenetic programming by maternal behavior.
Nat Neurosci. 7(8):847–54.

Stichwörter:
Medizin, Stress, Stressforschung

L&M 5 / 2008

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 5 / 2008.
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