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NMR Entwicklungen in der Festkörper-Kernresonanz-Spektroskopie

Der magische Winkel

Seit der Entdeckung der kernmagnetischen Resonanz (NMR) vor ca. 60 Jahren hat dieses Spektroskopie-Verfahren eine rasante Entwicklung erfahren und spielt heute bei der Strukturaufklärung neuer chemischer Verbindungen eine zentrale Rolle. Wesentliche Voraussetzungen für diese Entwicklung waren die methodische Grundlagenforschung, die ständige Verbesserung der Gerätetechnik und die deutliche Empfindlichkeitssteigerung durch den Einsatz immer stärkerer Magnetfelder.

In der NMR-Spektroskopie bestimmt man in Gegenwart eines starken Magnetfelds die Eigenschaften von Kernspins, die letztlich atomare Stabmagneten darstellen und die durch interne Magnetfelder – von magnetischen Wechselwirkungen mit der lokalen Umgebung – beeinflusst werden. Die klassische Hochauflösungs -NMR Spektroskopie, die für gelöste Probe anwendbar ist, stößt in der Materialforschung an ihre Grenzen, weil dort meist kein geeignetes Lösungsmittel existiert. Hier setzt die Festkörper -NMR -Spektroskopie an, was allerdings spezielleexperimentelle Techniken erfordert [1–3]. Ein Hauptproblemstellen dabei die starken, internen magnetischen Wechselwirkungen dar, die in der Regel zu breiten, strukturlosen und wenig aussagekräftigen NMR-Spektren führen. In den letzten Jahren wurden jedoch große Fortschritte erzielt, sodass einem routinemäßigen Einsatznichts mehr im Wege steht. Als wichtigste Technik sei das MAS („magic angle spinning“)-Verfahren genannt, beidem die sich in einem Zylinder befindende Probe mit Umdrehungszahlen von einigen kHz um eine Achse rotiert, die um den „magischen Winkel“ von 54,7° relativ zum äußeren Magnetfeld gekippt ist (Abb. 1). Dadurch lässt sich ein Teil der an isotropen Wechselwirkungsbeiträge eliminieren, was zusammen mit der meist gleichzeitig verwendeten Spinentkopplung zu einer signifikanten Linienverschmälerung führt. Ebenfalls hervorzuheben ist die Kreuzpolarisation, womit sich eine deutliche Empfindlichkeitssteigerung erzielen lässt.
Welche Informationen lassen sich jetzt aus den Festkörper -NMR -Untersuchungen erhalten? Wie erwähnt, beeinflusst die lokale chemische Umgebung die Kernspineigenschaften. Demzufolge können die Kernspins als„atomare Sonden“ ihrer jeweiligen lokalen Umgebung betrachtet werden, die Aussagen zur strukturellen Nahordnung und zu den dynamischen Eigenschaften der untersuchten Materialien liefern. Die ermittelten Strukturparameter hängen von den dominanten magnetischen Wechselwirkungen des betrachteten Kernspins ab (Abb. 2). So können aus der chemischen Verschiebung und der Quadrupolwechselwirkung – die beide von der elektronischen Umgebung herrühren – die lokalen Bindungsverhältnisse bestimmt werden, während dipolare Spin –Spin -Kopplungen für internukleare Abstandsbestimmungen im Bereich von ca.3–10 Å verwendet werden können. Größere Abstände sind aus sog. Spindiffusionsexperimenten zugänglich, welche bei heterogenen Materialien zur Bestimmung von Domänengrößen im Bereich von ca. 0,5 und 200 nm dienen. Hinzugefügt werden sollte, dass die genannten Strukturdaten gleichzeitig auch Informationen über strukturelle Unordnungen in den jeweiligen Proben liefern. Außerdem können zur Ermittlung der molekularen Beweglichkeit der untersuchten Materialien dynamische NMR-Verfahren eingesetzt werden, die in Abb. 3 aufgeführt sind. Hinsichtlich der zu untersuchenden Materialien gibt es keine grundsätzlichen Einschränkungen, d. h. Festkörper -NMR-Verfahren sind gleichermaßen bei kristallinen, teilkristallinen, amorphen, ungeordneten bzw. orientierten Proben anwendbar. Anhand von zwei ausgewählten Beispielen aus unseren eigenen Arbeitensollen die Möglichkeiten der Festkörper –NMR Spektroskopiein der Materialforschung kurz dargelegt werden.

Prekursorkeramiken

Binäre, ternäre und quaternäre Prekursorkeramiken weisen gegenüber den auf traditionellem Weg hergestellten Keramiken eine Reihe von Vorteilen auf und lassen sich durch thermolytische Umwandlung geeigneter Prekursorverbindungen bei relativ niedrigen Temperaturen herstellen[4–6]. Im Rahmen einer Kooperation mit dem MPI für Metallforschung (AK Prof. F. Aldinger) beschäftigen wir uns seit mehreren Jahren u. a. mit der strukturellen Charakterisierung quaternärer Si-B-C-N-Keramiken, dieaus Polysilazanen und Polysilylcarbodiimiden hergestellt werden und die sich durch eine außergewöhnliche Hochtemperaturstabilität auszeichnen. Es wurden umfangreiche29Si, 13C, 1H, 11B und 15N NMR –Untersuchungen vorgenommen, mit deren Hilfe sich die strukturellen Veränderungen bei der Keramikherstellung im Detail verfolgen ließen [7–9]. Letztlich konnten mithilfe der gewonnenen Strukturdaten „Keramisierungsmechanismen“, die bei diesem Herstellungsverfahren eine Rolle spielen, postuliertwerden. Für die amorphe Keramik konnte gezeigt werden, dass sie sich aus einer „Si-C-N“-Matrix, amorphem Kohlenstoff und Bornitrid -Domänen zusammensetzt. Bei weiterer Temperaturerhöhung kommt es zu einer Entmischung der „Si-C-N“-Matrix unter Ausbildung von SiC- und Si3N4-Domänen (Abb. 4).Die außergewöhnlichen Hochtemperaturstabilität der Si-B-C-N-Systeme wird sehr häufig auf die Ausbildungeiner „B-C-N“-Matrix - bestehend aus den genannten Bornitrid-Einheiten und dem amorphen Kohlenstoff - zurückgeführt,deren tatsächlicher Aufbau jedoch nicht geklärt ist. Aktuell laufende 11B NMR-Experimente sowie11B-15N- und 11B-14N-Doppelresonanz-Experimente zeigenfür die Si-B-C-N-Systeme deutlich größere B-N- und B-B Abstände als bei reinem hexagonalem Bornitrid, was aufeine strukturelle Unordnung zurückführbar ist [10]. Eine endgültige Festlegung der strukturellen Zusammensetzung der „B-C-N“-Matrix bedarf jedoch noch weitergehender Untersuchungen.

Festelektrolyte

Nicht-stöchiometrische Oxide, wie Yttrium- stabilisiertes Zirkonoxid (YSZ), sind für ihre Sauerstofftransport- Eigenschaften bekannt und werden z. B. als Festelektrolyt ein SOFC-(„solid oxide fuel cell“) Brennstoffzellen eingesetzt[11,12]. Für diese Materialien werden u. a. verschiedene Beiträge zur Sauerstoffionenleitfähigkeit vom Kornvolumen und von den Korngrenzen diskutiert. Um die Sauerstoffionenbeweglichkeit auf atomarer Ebene zu erfassen, haben wir erstmalig temperaturabhängige 17O Festkörper -NMR-Messungen an mehreren 17O-angereicherten YSZ-Proben zwischen Raumtemperatur und 975 K durchgeführt [13]. Dabei ließen sich über die erhaltenen Spin –Gitter -Relaxationsdaten extremschnelle Sauerstoffionenbewegungen mit Platzwechseländerungen im nm-Bereich nachweisen, die durch die Probenbeschaffenheit unbeeinflusst blieben. Einen deutlichen Einfluss durch die Probenkonstitution wurde beiden NMR-Linienbreiten und den Spin –Spin –Relaxationsdaten beobachtet, die beide auf Bewegungen im mittleren Zeitbereich und auf einer größeren Längenskalaempfindlich sind. Derzeit werden die erzielten Resultate durch zusätzliche Experimente auf eine breitere Basis gestellt. Es wird erwartet, dass es vor allem die länger reichweitigen Bewegungen sind, die für den Vergleich der NMR-Daten mit den Diffusions- und Ionenleitfähigkeitsdaten dieser Proben herangezogen werden können. Hervorzuheben ist, dass die NMR-Spektroskopie eine atomare „Sondentechnik“ darstellt, die die molekulare Umgebung direkt abtastet, während andere Messverfahren zur Ionenbeweglichkeit „Bulkmethoden“ sind.

Literatur
[1] K. Schmidt-Rohr, H. W. Spiess, Multidimensional Solid-State NMR and Polymers,
Academic Press, London, 1994.
[2] K. J. D. Mackenzie, M.E. Smith, Multinuclear Solid-State NMR of Inorganic
Materials, Pergamon Press, Amsterdam, 2002.
[3] M. J. Duerr (Ed.), Solid-State NMR Spectroscopy- Principles and Applications,
Blackwell Science, Oxford, 2002.
[4] D. Seyferth, G. H. Wiseman, J. Am. Ceram. Soc. 67, C-132 (1984).
[5] J. Bill, F. Aldinger, Adv. Mater. 7, 775 (1995).
[6] J. Bill, F. Wakai, F. Aldinger (Eds), Grain Boundary Dynamics of Precursor-
Derived Covalent Ceramics, Wiley-VCH, Weinheim, 1999.
[7] J. Schuhmacher, F. Berger, M. Weinmann, J. Bill, F. Aldinger, K. Müller, Appl.
Organomet. Chem. 15, 809 (2001).
[8] J. Schuhmacher, M. Weinmann, J. Bill, F. Aldinger, K. Müller, Chem. Mater.
10, 3913 (1998).
[9] F. Berger, M. Weinmann, F. Aldinger, K. Müller, Chem. Mater. 16, 919 (2004).
[10] T. Emmler, O. Tsetsgee, G. Buntkowsky, M. Weinmann, F. Aldinger, K. Müller,
Soft Materials, 4, 207 (2007).
[11] T.H. Etsell, S.N. Flengas, Chem. Rev. 70 339 (1970) .
[12] G. Adachi, N. Imanaka, S. Tamura, Chem. Rev. 102, 2405 (2002).
[13] T. Viefhaus, T. Bolse and K. Müller, Solid State Ionics, 177, 3063 (2006).

kmueller@pc.uni-stuttgart.de

Foto: © Prof. Dr. Klaus Müller

Stichwörter:
Analytik, NMR

L&M 1 / 2008

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 1 / 2008.
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