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Forensische Mykologie

Pilzfruchtkörper als Zeugen vor Gericht

Meist sind sie klein und nicht einmal schön, aber ihre Stimme hat Gewicht – auch in der obergerichtlichen Rechtsprechung: die Pilzfruchtkörper! Ihre Story ist unwiderlegbar, die Körpersprache der Pilze kennt die Lüge ebenso wenig wie die der Bäume. Sie können ganz verschieden aus sehen, klein und hässlich, reich und wohlgenährt, aber eines ist ihnen heilig, der Geotropismus, der auch der Schlüssel zu ihrer Botschaft ist!

Geotropismus bei Bäumen und Contenance bei Menschen

Das Streben nach Vertikalität ist bei Pflanzen deutlich ausgeprägt. Bäume, die vom Sturm schief gestellt wurden, richten sich wieder auf (Abb. 1-3). Selbst in der einjährigen „Wegwerfgesellschaft“ der Getreide sieht man, wie sich die Halme nach einem Schlagregen an ihren Knoten wieder aufwärtsbiegen. Die Contenance ermöglicht dem leistungswilligen Menschen eine gerade, durch Muskelspannung bewirkte Haltung, die der meist herumhängende und damit demonstrativ leistungsunwilligere „CoolnessTyp“ selten zeigt (Abb. 4).

Der mehrjährige Pilzfruchtkörper und seine Körpersprache

Der Pilzfruchtkörper ist eine Abschussrampe für die Sporen, die den nächsten Baum als neuen Wirt besiedeln sollen. Sie werden gebildet, wenn das Mycelium, das Pilzgeflecht im Baum, Luftkontakt erlangt, wenn also von innen nach außen die Wandung des hohlen oder faulen Baumes durchbrochen oder „durchfressen“ wird. Dem Pilzfruchtkörper ist das geotrope Wachstum vielleicht noch heiliger als dem Baum. Während Letzterer als schiefer Baum, fototrop wachsend, noch assimilieren kann, ist der Pilzfruchtkörper, der seine Poren nicht nach unten hält, so sinnlos wie ein Salzstreuer, den man mit den Löchern nach oben vergeblich über dem duftenden Steak schüttelt. Kein Wunder also, wenn er auf diese Situation mit fast verzweifelt anmutenden Wachstumskorrekturen reagiert. Die nachfolgenden Abbildungen (Abb. 7, 8) sind dem Buch „Stupsi erklärt den Baum“ entnommen. Bisher hat die Körpersprache der Pilze schon mal vom Futterreichtum des Pilzfruchtkörpers erzählt. Jetzt kommen wir zum positiven Geotropismus. Weil die Orientierung der Poren dem Pilzfruchtkörper heilig ist, müssen sie nach einem Baumversagen diese schleunigst nach unten drehen oder aber das Mycelium lässt einfach neue, um 90° gedrehte Fruchtkörper aus dem Stamm wachsen (roter Pfeil in Abb. 7). Ein besonderer Fall, der nicht selten zu falschen Schlüssen verleitet, ist der folgende Fall: Das abgebrochene Teil eines Baumes wurde verbracht, nur der noch stehende Torso ist da und hat Pilzfruchtkörper! Die Anwälte lecken sich die Lippen … War der Fäulebefall des Baumes vor dem Unfall erkennbar? Die meisten unserer Hörer sagen spontan: Ja! Die richtige Antwort heißt jedoch: Wir wissen es nicht! Der Fruchtkörper kann vor dem Unfall schon am Baum gewesen sein, kann aber auch (in wenigen Wochen) erst nach dem Unfall in der gleichen Positionierung zugewachsen sein.
Bei einigen Pilzarten kann man jedoch durch Aufschneiden des Fruchtkörpers die so genannten Tramaschichten (Porenversiegelungen am Ende der jährlichen Wachstumsphase) auszählen und das Alter auf das Jahr genau bestimmen. Leider geht das nicht bei allen.

Fazit

Die Körpersprache der Pilze gibt Informationen über das dem Mycelium zugängige Restholz, seinen Ernährungszustand also. Sie erzählt auch, ob der Pilz vor dem Unfall am abgebrochenen Baumteil war, was auf die Vertikalorientierung der Poren gestützt ist, eine Tendenz zum Geotropismus, die auch Bäume und Menschen mit Spannkraft charakterisiert, die Aufrechten, Unbeugsamen, die Standhaften – leider auch die Hochmütigen –, die deutsche Sprache kennt das Phänomen längst!

mattheck@web.de
karlheinz.weber@kit.edu

Abb. 1- 3: Ein schief gestellter Laubbaum bildet auf seiner Oberseite Zugholz, das sich wie ein Muskel verkürzen kann und somit den Baum wieder hochbiegt. Dagegen bilden schiefe Nadelbäume unterseitiges Druckholz, das sich in Längsrichtung ausdehnt und somit den schiefen Baum ebenfalls wieder in die Vertikale biegt. Dies nennt man „negativen Geotropismus“: Wachse entgegen der Schwerkraft. Nur bei Lichtmangel wachsen die Bäume, dem Fototropismus folgend, auch vorsätzlich schief – zum Licht! Abbildungen aus: Mattheck, C. (2010): Stupsi erklärt den Baum – ein Igel lehrt die Körpersprache der Bäume.

Abb. 4: Menschen können sich aus einer Räkelhaltung durch Muskelkraft und Willenskraft wieder aufrichten, wenn sie es wollen.
Abbildungen aus: Mattheck, C. (2009): Bewegungsspuren – eine mechanische Deutung der Körpersprache.

Abb. 5: Wohlhabender Fruchtkörper mit viel Restholz
So, wie ein wohlgenährter Mensch an deutlichen Zuwächsen im Bauchbereich zu erkennen ist, sieht man auch einem Pilzfruchtkörper an, wie er im Futter steht. Dabei spielt seine Gesamtgröße eine geringe Rolle. Viel wichtiger sind die letzten, horizontalen Zuwachsschübe, die Inkremente. Der abgebildete Fruchtkörper macht noch reichlich Zuwachs und hat offenbar Zugang zu noch unzersetztem Holz – so wie Stupsi zu seinen Würstchen. Dennoch können solche Bäume mit wohlgenährten Fruchtkörpern brechen. Ein satter Pilzfruchtkörper sagt nicht genug über die Restwandstärke hohler Bäume.

Abb. 6: Hungernder Pilzfruchtkörper mit wenig „Holzfutter“
Wenn das meiste Holz im Baum schon verfault ist, hat der Fruchtkörper keine Nahrung mehr und wächst kaum noch zu. Ihm geht es wie Stupsi mit seinem abgenagten Knochen, der auch mal voll von gebratenem Fleisch war. Bäume mit solchen hungernden Pilzfruchtkörpern sind meist noch viel gefährlicher als Bäume mit wohlgenährten Fruchtkörpern. Manchmal kann man sogar einen Wanderstock in den Stamm stecken, als wäre er aus nasser Pappe.

Abb. 7: Die horizontal um 90° gedrehten Fruchtkörper (roter Pfeil) sind erst nach dem Baumsturz gewachsen. Sie genießen die neue Orientierung genau wie Stupsi auf seinem waagerechten Sitz.

Abb. 8: Die roten Pfeile deuten auf alte Fruchtkörper, die vor dem Baumversagen schon am Baum waren. Diese Fruchtkörper erzählen in ihrer Körpersprache, dass man schon vor dem Unfall sehen konnte, dass der Baum faul war. So kann ein Pilzfruchtkörper auch ein unanfechtbarer Zeuge vor Gericht sein. Auch Stupsi fühlt sich auf seinem Stühlchen, das am stehenden Baum sicher ein bequemer Hochsitz war, sichtlich unwohl. So würde man einen Sitz am liegenden Baum nie anbringen und so würde auch kein Pilzfruchtkörper am liegenden Baum wachsen.

L&M 2 / 2011

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 2 / 2011.
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