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Das Ökosystem Leichnam

Insekten als Ermittler

Für die ca. 1 Mio. beschriebenen Insektenspezies stellt unser Planet eine extreme Vielfalt an Lebensräumen zur Verfügung, an die sich die Gliedertiere im Laufe ihrer Evolution perfekt angepasst haben. Wer aber hätte gedacht, dass auch ein menschlicher Leichnam ein Ökosystem mit teilweise hoch spezialisierten Arten darstellt?
Tatsächlich gibt es mehrere hundert Arten von Insekten und Spinnentieren, die auf einem Kadaver gefunden werden können.

Die forensische Entomologie widmet sich der Erforschung der Biologie und Ökologie von Aasinsekten zur Beantwortung kriminalistischer Fragestellungen. Die Verwesung eines menschlichen Leichnams verläuft nach demselben Muster wie etwa die einer Maus, doch ist sie ungleich dramatischer, da wesentlich mehr Biomasse umgesetzt wird und der Anblick eines im Zustand der Fäulnis befindlichen menschlichen Körpers alles andere als angenehm ist: Olfaktorisch und optisch müssen Rechtsmediziner, Kriminalbeamte oder die den Leichnam bergenden Bestatter also durchaus hart im Nehmen sein – warum beschäftigt man sich dennoch aus wissenschaftlichen Gründen mit diesem Aspekt des Todes?

Todeszeitbestimmung

Hauptgrund ist die Frage nach dem Todeszeitpunkt, der besonders nach einem Tötungsdelikt wissenschaftlich exakt und begründbar eingegrenzt werden muss. Doch genau hier hat die Rechtsmedizin bereits nach 24–48 Stunden große Schwierigkeiten. Während die ersten Stunden nach Todeseintritt mithilfe von z.B. Messungen der Körpertemperatur und Überprüfung der Leichenstarre und Leichenflecken recht genau einzugrenzen sind, hat man nach spätestens zwei Tagen massive Probleme. Bei Mord und Totschlag kommt diesem Zeitraum jedoch große Bedeutung zu, um Alibis zu überprüfen und mögliche Tathergänge zu rekonstruieren. Hier können Insekten weiterhelfen, die sich an dem Leichnam entwickeln und diesen bei entsprechender Zugänglichkeit bereits in den ersten Stunden nach Todeseintritt besiedeln. Die Zusammensetzung der Fauna folgt dabei einem Muster, das sich am Verwesungsstadium des Leichnams orientiert.

Wer zuerst kommt…

Schmeißfliegen dominieren mit ihren Maden die ersten Tage des Zerfalls, lassen wenig Platz für andere Arten und tragen maßgeblich zum Abbau des Körpers bei. Andere Gruppen wie die so genannten Käse- oder die Schwingfliegen kommen später und werden das Feld schließlich verschiedenen Käfern überlassen, die anders als Fliegenmaden aufgrund ihrer Mundwerkzeuge dazu in der Lage sind, Haut-und Knorpelreste zu vertilgen. Diese chronologische Abfolge von Arten in einem Ökosystem bezeichnet man als Sukzession. In der forensischen Entomologie versucht man, das Vorhandensein von bestimmten Indikatorarten mit typischen Verwesungsstadien in Verbindung zu bringen, umso auf Liegezeiten des Körpers schließen zu können. Problematisch hierbei ist, dass die Geschwindigkeit der Zersetzung variabel ist und von Faktoren wie z.B. Temperatur, Körpergewicht, Liegeort (Bsp.: Wohnung vs. Wald, Sonne vs. Schatten) oder der Zugänglichkeit für Leicheninsekten bestimmt wird. Entsprechend früher oder später besiedeln die jeweiligen Insektengruppen den Leichnam und ermöglichen aufgrund dieser Variabilität nur die grobe Eingrenzung der so genannten Leichenliegezeit. Versuche mit Tierkadavern in den unterschiedlichsten Lebensräumen tragen deshalb maßgeblich dazu bei, unser Verständnis dieser Prozesse zu verbessern und die kritischen Zeitfenster zu verkleinern (Abb. 1).

Altersbestimmung von Insekten

Während man mit den Erkenntnissen zur Insektensukzession länger zurückliegende Zeiträume eingrenzt, sind in den ersten Tagen und Wochen nach Todeseintritt mithilfe der sich am Leichnam entwickelnden Insekten auf den Tag genaue Angaben möglich. Hierzu bestimmt man meist das Alter der wichtigsten Aasinsekten, der sich am Leichnam entwickelnden Schmeißfliegenmaden und puppen. Sie sind deshalb so wichtig, weil sie zu den Erstbesiedlern einer Leiche gehören und im optimalen Fall Eier dieser Fliegen schon innerhalb der ersten 60 Minuten nach Todeseintritt gefunden werden können; darüber hinaus ist ihre Entwicklungsbiologie im Vergleich zu der anderer an einem Leichnam auftretenden Arten am besten verstanden. Die temperaturgesteuerte Entwicklung der Fliegen erlaubt bei Kenntnis der Umgebungstemperatur eine taggenaue Altersbestimmung des Nachwuchses (Ei, Made, Puppe). Voraussetzung hierfür ist die Identifizierung der Art, denn die Artzugehörigkeit bestimmt die Entwicklungsgeschwindigkeit der Tiere: Verschiedene Arten wachsen bei der gleichen Temperatur von z.B. 25 °C unterschiedlich schnell. Da je nach Temperatur und Art ein kompletter Entwicklungszyklus vom abgelegten Ei bis zum Schlüpfen der erwachsenen Fliege bis zu sechs Wochen dauert, kann in diesem Zeitraum mit sehr guten Ergebnissen gerechnet werden. Dafür müssen jedoch grundlegende Mechanismen des Wachstums der Tiere verstanden und Werkzeuge zur Altersbestimmung etabliert werden. So ist etwa die Fliegenpuppe weitaus schwieriger hinsichtlich des Alters einzugrenzen als die Made, die diverse messbare Körpermerkmale zu bieten hat. Die Puppe, die immerhin ca. 50 % der Entwicklungsdauer beansprucht, befindet sich jedoch in einem Puparium, sodass sich die Metamorphose zur erwachsenen Fliege von außen nicht nachvollziehen lässt. Nach aufwändiger Präparation kann eine Klassifikation der fortschreitenden Färbung und Beborstung erfolgen (Abb. 2). Eine molekularbiologischeMöglichkeit bietet die Analyse der altersabhängigen Gen-Expression, denn der Umbau der Made zur Fliege ist mit derkomplexen Regulation unterschiedlichster Gene verbunden, deren Quantifizierung ebenfalls eine Altersbestimmung ermöglichen könnte. Das errechnete Alter korrespondiert mit der so genannten minimalen Leichenliegezeit: Ein Zeitraum, der in der Regel nicht unterschritten wird (deswegen minimal), aber einen länger zurückliegenden Todeszeitpunkt nicht ausschließt. Wenn sich z.B. 7 Tage alte Fliegenmaden an dem Körper finden, ist davon auszugehen, dass der Mensch seit mindestens 7 Tagen tot ist. Er kann allerdings auch bereits seit 10 Tagen tot und erst vor 7 Tagen von Insekten „entdeckt“ worden sein. Dies ist häufig bei Wohnungsleichen der Fall, bei denen die Zugänglichkeit für Fliegen erschwert ist. Auch klimatische Parameter wie starker Regen und niedrige Temperaturen können selbst in der insektenfreundlichen Jahreszeit (April–Oktober) zu substanziellen Verzögerungen bei der Besiedlung von Leichen führen.

Detektiv Schmeißfliege - Von der forensischen Entomotoxikologie bis zur Vernachlässigung

Aasinsekten bieten weitere Möglichkeiten für die Kriminalistik. Am Ende der Nahrungskette stehend, konsumieren die Fliegenmaden auch Drogen und Medikamente, die das Mordopfer zu Lebzeiten zu sich genommen hat. So kann auch noch nach jahrelanger Liegezeit mithilfe der verwitte rungsbeständigen Puparienreste ein Drogenscreening durchgeführt werden. Die toxikologische Untersuchung an solchen Überresten eines unbekannten Leichnams nach einer zweijährigen Liegezeit und damit verbundenen vollständigen Skelettierung ermöglichte die Feststellung, dass es sich um einen schwerkranken, medikamentenpflichtigen Menschen gehandelt hatte. Eine zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführte DANN-analytische Identifizierung der Person bestätigte diese Diagnose. Die an einer unheilbaren Krankheit im Endstadium leidende Frau hatte sich in einem Waldgebiet das Leben genommen und war erst Jahre später zufällig gefunden worden. Molekularbiologische Untersuchungen der Maden ermöglichen die Erstellung eines DANN-Profils des Leichnams, wenn dieser selbst nicht mehr zur Verfügung steht, also vielleicht lediglich im Kofferraum des Wagens, in dem die Maden gefunden wurden, abtransportiert worden ist. Diese Untersuchung ist auch dann sinnvoll, wenn es um Qualitätssicherung geht und infrage gestellt wird, ob die für das Gutachten untersuchten Maden sich tatsächlich am Mordopfer entwickelt haben oder eine Kontamination darstellen, sich also in Wirklichkeit in z.B. Lebensmittelresten der vollkommen vermüllten Wohnung des Opfers entwickelt haben. Mögliche Tatorte, die als solche nicht mehr zu erkennen sind (z.B. Wohnungen, die durch den Täter nach der Tat gereinigt wurden), können identifiziert werden, indem man winzige, unmittelbar nach der Tat durch Fliegenaktivität zu Stande gekommene Blutartefakte z.B. an Wänden (Abb. 3) humangenetisch typisiert. So ist es vorgekommen, dass nach einer fahrlässigen Tötung und anonymer, geheim gehaltener „Entsorgung“ des Leichnams Sozialleistungen (hier: Rente) erschlichen wurden, der Nachweis der DNA des Opfers in Fliegenartefakten an Wänden und Fenstern der Wohnung im Rahmen von später stattfindenden Untersuchungen aber ein starkes Indiz für den Tod des Vermissten war. Doch nicht nur im Rahmen von Tötungen oder unklaren Todesfällen ist die Expertise des forensischen Entomologen gefragt: Insekten können auch lebende Menschen besiedeln, ihr Nachwuchs entwickelt sich dann z.B. in medizinisch unzureichend versorgtem Wundgewebe oder im durch Exkremente verunreinigten und länger nicht gesäuberten Windel bereich. Dann muss ein entomologisches Gutachten z.B. klären, ob der Madenbefall z.B. eines diabetischen Fußes im Krankenhaus seinen Anfang genommen hat oder durch fahrlässige Wundversorgung des Patienten nach seiner Entlassung aus der Klinik ermöglicht wurde. So geschehen vor wenigen Jahren in einem Krankenhaus in Süddeutschland, das von einem ehemaligen Patienten verklagt wurde. Der Befall einer Wunde mit Maden wurde erst beim Verbandswechsel durch den Hausarzt im Heimatort festgestellt, am Ende der Krankengeschichte stand die Amputation einer Extremität. Die entomologische Analyse konnte zeigen, dass die Insektenbesiedlung der Wunde erst kurz vor Aufsuchen des Hausarztes stattgefunden hatte und die mit der Besiedlung einhergehende Entzündung aufgrund einer fahrlässigen Verzögerung der Behandlung durch den Patienten selbst verschuldet war. Die mögliche Lebendbesiedlung von Wunden spielt auch im veterinärmedizinischen Bereich beim Nachweis einer Vernachlässigung von Nutz- und Haustieren eine wichtige Rolle, wenn die verantwortlichen Tierhalter zu spät oder gar nicht die Hilfe eines Tierarztes in Anspruch nehmen. Die beschriebenen Fragestellungen und Lösungsansätze zeigen das eigentlich Spannende der forensischen Entomologie auf: die enorme Vielfalt an Methoden und den hohen Grad der Interdisziplinarität. Es wird auch in den nächsten Jahren noch viel zu entdecken und zu erforschen sein.

Um die Abbildungen zu sehen, laden Sie sich bitte das PDF (rechts oben) runter.

Foto: © Dr. Jens Amendt

L&M 3 / 2012

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 3 / 2012.
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