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Schneckengerichte - Viagra für Arme

„Über Geschmack lässt sich nicht streiten“ – so heißt es in einer Volksweisheit. Also sollte man es auch gar nicht versuchen. Das gilt für alle Bereiche, bei denen es um den Geschmack im eigentlichen Sinne des Wortes geht – also um das Schmecken –, aber auch für Mode, Kunst, Wohnkultur und andere. Häufig finden Verunglimpfungen statt von Leuten, deren Geschmacksvorstellungen nicht den eigenen entsprechen: „Wie kann man sich nur so anziehen“, „so etwas kann man doch nicht essen“, „die Wohnatmosphäre kommt der eines Kühlturms gleich“ sind einige Beispiele dafür. Man disqualifiziert Leute, die geröstete Heuschrecken verspeisen und sagt den Chinesen nach, dass diese alles essen , was vier Beine hat – außer Stühle und Tische.

Doch drehen wir die Betrachtungsrichtung einmal um. Was essen wir in Mitteleuropa, das einem Mitmenschen aus einem anderen Kulturkreis eher ekelerregend vorkommen mag? Beispiele lassen sich schnell finden: halbtote Muscheln, Krabben, Krebse und Weinbergschnecken gelten als Delikatessen, die auf keiner Restaurantkarte fehlen, wenn der Koch etwas auf sein Renommee hält. Auch von unseren Mitbürgern gibt es nicht wenige, die das Verzehren dieser Tiere für dekadent halten. Doch über Geschmack lässt sich eben nicht streiten.
Wir widmen uns in diesem Beitrag den Schnecken, um präzise zu sein, den Weinbergschnecken und ihren engeren Verwandten. Schnecken sind aus der traditionellen Küche vornehmlich der südeuropäischen Länder nicht wegzudenken. Auch in der Karibik, in Afrika und in fernöstlichen Ländern werden Schnecken verzehrt. Hier vermehrt nicht nur des Geschmacks wegen: Ihr Verzehr soll positiv Auswirkung auf die männliche Potenz haben – Viagra für Arme sozusagen. Der Verzehr essbarer Schnecken hat vermutlich einen prähistorischen Ursprung. Auch die Römer hatten Schnecken auf ihrem Speiseplan, wie durch Funde antiker Küchenabfälle in vielen Ausgrabungsstätten nachgewiesen wurde. Um etwa 50 v. Chr. begann Fulvius Hirpinius mit der professionellen Aufzucht. Der Johann Lafer der Antike, Marcus Gavius Apicius, empfahl in seinem Kochbuch, die Schnecken mehrere Tage in Milch einzulegen und dann zu braten. Die Römer waren verantwortlich dafür, dass sich das Essen von Schnecken in Europa ausgebreitet hat. In den nachrömischen Epochen waren Schnecken wohl eher ein Armeleuteessen. Bis die Mönche im Mittelalter auf den Trichter kamen, wie man in der Fastenzeit nicht auf Gaumenfreuden verzichten musste: Schnecken waren weder Fisch noch Fleisch – beides untersagt in der Fastenzeit. Man konnte sie also essen, ohne mit der Inquisition in Konflikt zu geraten. Die Mönche legten umfangreiche Schnecken gärten an und fütterten die Schnecken mit allerlei Kräutern, um stets Nachschub dieser köstlichen Fastenspeise zu haben.
Im 19. Jahrhundert wurde der Schneckenverzehr hoffähig – hauptsächlich wieder wohl wegen ihrer aphrodisierenden Wirkung. Aus dieser Zeit sind heute noch viele Schneckenrezepte überliefert. Wien wurde die Hochburg für Schneckenliebhaber, es gab dort einen eigenen Schneckenmarkt. Die Schnecke wurde dort von Schneckenweibern als Wiener Auster angeboten (www.wienerschnecke.at). Die Tradition lebt noch heute: vom 1. bis 7. Oktober dieses Jahres findet in den besten Restaurants Österreichs das „Schneckenfestival 2012“ statt in dessen Verlauf eine Vielzahl von Zubereitungen zelebriert wird (Näheres dazu www.diningcity.at).
Heute werden Schnecken an vielen Orten in Europa gezüchtet und vermehrt. Allein in Deutschland gibt es 18 Schneckenzüchter. So Hans Herold, der in Beerfelden/Hetzbach im Odenwald eine Schneckenzucht aufgebaut hat. Wir haben den Schneckenzüchter besucht, um uns vor Ort über die Aufzucht und die damit verbundenen Probleme zu informieren. Hans Herold war nicht immer Schneckenzüchter.
Der heute 64-jährige Odenwälder hatte ursprünglich Maler und Lackierer gelernt und sich dann in Hetzbach eine Autolackiererei aufgebaut, die heute sein Sohn betreibt. Vor sieben Jahren rieten ihm die Ärzte, sich aus dem Berufsleben zurückzuziehen. Angeregt vom Landrat des Odenwaldkreises, der seine Heimat attraktiver machen wollte, und wohl auch von Freunden aus Frankreich, kam er schließlich auf die Schnecken. Er fand ein passendes Gelände in der Nähe seines Wohnorts, importierte die ersten Schnecken aus Frankreich und startete durch. Probleme ließen nicht auf sich warten. Man hielt ihn für einen Spinner und fürchtete eine Schneckenplage in der Gegend – ausgelöst durch Entweichen von Zuchttieren. Die Befürchtungen waren unbegründet. Die Zuchtanlage gleicht einem Sicherheitstrakt. Die mit Raps bepflanzten Zuchtbeete, in denen jährlich zigtausende Schnecken aufwachsen, sind durch mehrere Zäune gesichert (Abbildung unten links). Sollte dennoch eine Schnecke entkommen oder sollte eine Nacktschnecke versuchen einzuwandern, um sich am Grünzeug zu laben, warten Hühner, Enten und Gänse darauf, Flüchtlinge oder Eindringlinge zu verspeisen. Die Beete sind mit breiten, unbehandelten Holzbrettern unterbrochen, an deren Unterseite die Schnecken tagsüber und insbesondere bei Trockenheit in großer Zahl festhaften und schlafen (Abbildung unten rechts). Bei Regenwetter und bei Nacht kommen sie dann zum Vorschein.
Am liebsten ernähren sich die Schnecken von Rapsblättern. Da es dem Boden jedoch an Kalk mangelt, muss Zusatzfutter verabreicht werden, und zwar jeden 2. Tag. Dieses besteht aus einer Mischung aus Soja, Vitaminen, Mais, Kalk und Salz, das Ganze sehr fein geschrotet. Herr Herold benützt nur genfreies Futter, eigens von einem Spezialfuttermittelhersteller für ihn zubereitet.
Die Schnecken gelten nicht nur beim Menschen und den gefiederten Wächtern als Delikatesse. Auch Feldratten sind an ihnen interessiert. Sie nutzen die Gänge von Maulwürfen, um die Zäune zu überwinden. Auch dafür hat Hans Herold eine Lösung: Er stellte mehrere kleine Windräder auf, die Vibrationen auf den Boden übertragen und damit die Maulwürfe abschrecken. Die Schnecken der Sorte Aspersa Maxima, die in Hetzbach aufwachsen, heben sich in Farbe und Form von den hiesigen Weinbergschnecken ab. Diese Schneckenart ist sehr proteinhaltig, enthält nur 0,2 % Fett. Die aus Südeuropa stammende Rasse weist deutliche Bandstrukturen auf dem Haus auf. Schnecken sind Zwitter. Das erleichtert die Paarung. Nach ihrer Geschlechtsreife, die – je nach warmer Witterung – schon in einem Lebensalter von wenigen Monaten einsetzen kann, legen sie ca. 250 – 300 Eier ab. Nach drei Wochen schlüpfen stecknadelgroße Schnecken, fix und fertig mit Eigenheim auf dem Rücken. Es bleibt das Geheimnis von Hans Herold, wie er die Eier sammelt und sie in seinem Keller päppelt, um die Jungschnecken dann wieder auszusetzen.
Der Schneckenzüchter hat sein anfängliches Hobby zu einem Full-Time-Job entwickelt: von der Aufzucht über die Verarbeitung bis zum Vertrieb. Der Hessische Rundfunk berichtete über ihn in seinem Fernsehprogramm. Die FAZ widmete Hans Herold am 21.8.2011 einen Beitrag unter dem Titel „Glitschige Delikatessen aus dem Odenwald“. Er beliefert mehrere Gourmet-Restaurants und betreibt ein kleines Ladengeschäft in Beerfelden. Seine Frau unterstützt ihn bei der Zubereitung von fertigen Schneckengerichten und anderen Spezialitäten aus der Region. Es lohnt sich, die Schneckenfarm und auch den Laden zu besuchen.

Foto: © Prof. Dr. Jürgen Brickmann

L&M 6 / 2012

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 6 / 2012.
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