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Zur Theorie der biologischen Spurenkunde

Frühling ohne Vogelgesang

Die Biologin Rachel Carson veröffentlichte 1962 ihr weltberühmtes Buch „Der stumme Frühling“, in dem sie vor den Folgen des unbedachten DDT-Einsatzes warnte. DDT wird in der Nahrungskette angereichert und verursacht mit seiner hormonähnlichen Wirkung in den Organismen am Ende der Nahrungsketten gravierende Schäden. Einer davon ist, dass die Eierschalen vieler Vögel so dünn werden, dass sie während der Brut zerbrechen. Die Folge: ein stummer Frühling ohne Vogelgesang.

Naturkenntnis als beständiger Prozess

Nach dem Beginn der Synthese organischer Verbindungen vor mehr als 100 Jahren sind heute einige zehntausend dieser Verbindungen mittlerweile weltweit in den Umweltmedien (Wasser, Boden, Luft) nachweisbar. Sie sind aus den Herstellungsprozessen selbst, durch Unfälle, durch Entsorgungen und Gedankenlosigkeit in die Umwelt gelangt. Einige von ihnen verursachen über die Nahrungsketten selbst bei entlegenen indigenen Menschengruppen schwere Krankheitsbilder. Dagegen ist eine laufende Nase, die jetzt bei einigen Mitmenschen durch die Pollen der Frühjahrsblüher Hasel und Birke ausgelöst werden, vergleichsweise harmlos. Wer dem Heuschnupfen entkommt, könnte diesen Sommer aber erstmalig von der zu uns vordringenden Asiatischen Tigermücke gestochen werden, die eine Reihe gefürchteter Krankheiten überträgt. Jenseits des philosophischen Aspektes, dass Leben allgemein unter dem beständigen Risiko der Gefährdung verläuft, werfen die drei Beispiele auch die Frage auf, ob und wie solchen Gefahren vorgebeugt werden kann. Hierfür bedarf es zunächst der Beobachtung der Umwelt. Diese findet vielfältig statt, angefangen vom Verbraucher, dem interessierten Naturliebhaber über die Umweltwissenschaften bis hin zu den Umweltüberwachungseinrichtungen des Bundes und der Länder.
Der Tätigkeit der forschenden Umweltwissenschaften kommt bei der Beobachtung die größte Bedeutung zu, weil der beständig fortschreitende Prozess der Naturkenntnis auf den Problemfindungs- und Problemlösungsstrategien der Grundlagenforschung beruht. In ihr werden u. a. die Gefährdungspotenziale überhaupt erst erkannt. Da die drei aufgeführten Beispiele biologische Wirkungen auslösen, fallen sie in den fachlichen Zuständigkeitsbereich von Biologen: Die Wirkung von DDT erforscht ein Biochemiker, ein Physiologe oder Entwicklungsbiologe, die Pollen bestimmt ein vegetationsgeschichtlich kundiger Botaniker, die Tigermücke erkennt ein Zoologe und die Parasiten, die sie als Zwischenwirt oder Überträger nutzen, bestimmt der Mikrobiologe. Verfolgt die Forschung den Zweck der Umweltüberwachung und der Gefahrenprävention, dann wird sie dem „Umweltmonitoring“ zugerechnet, das neben der „Kriminalbiologie“ den zweiten Bereich der „biologischen Spurenkunde“ ausmacht.

Stoffe und Wirkung im Fokus

Die „biologische Spurenkunde“ ist ein Forschungs- und Wissensgebiet, in dem biologisch wirksame Stoffe, biogene Verbindungen und Materialien und biologische Organismen beobachtet und analysiert, ihre Wirkung diagnostiziert und prognostisch beurteilt werden. Beobachtung, Analyse, Diagnose und Prognose erfolgen zur Überwachung, Begleitung und Sicherung der Umwelt, sowie zur Gefahrenabwehr bei Menschen, bei anderen Organismen und bei Materialien. Im Gegensatz zu anderen Wissens- und Wissenschaftsbereichen ist die Einrichtung einer biologischen Spurenkunde eine normativ gesetzte Notwendigkeit (Art. 2 und 20a GG sowie zahlreiche gesetzliche Bestimmungen und Richtlinien).

Biologie und Umwelt

Das Umweltmonitoring ist ein Bereich angewandter Biologie. Kein Anwendungsbereich der Biologie hat einen höheren Bedarf an Biologen unterschiedlichster Fachrichtungen und Spezialisierungsgrade. Biologen überprüfen z B., ob aus knochenmehlhaltigen Düngern BSE-Prione an Zuckerrübenschnitzeln haften, ob Gensequenzen aus gentechnisch veränderten Organismen in die Umwelt gelangen, ob Kalbsleberwurst vom Kalb stammt oder der Parmaschinken aus der Region Parma, ob Hormone aus Ovulationshemmern die Kläranlagen passieren und in die Flüsse gelangen und dort das Geschlechterverhältnis der Fische verschieben, sie prüfen die Belastungen des Trinkwassers mit Keimen, die Hygiene in Krankenhäusern und Gaststätten, welche Schädlinge in der Land- und Forstwirtschaft auftreten und wie sie verträglich bekämpft werden können, ob der Marderhund den Main überschritten hat, wie der Lachs wieder heimisch werden kann, ob der Maikäfer nur noch im Raum Darmstadt vorkommt, ob Schädlinge, geschützte oder invasive Arten mit den Gütern in den Überseehäfen oder mit den Frachtmaschinen aus Übersee landen, ob sich jemand im Urlaub mit Malaria infiziert hat, welche Pflanzen- und Tierarten bei uns gefährdet sind und so weiter. Und empfehlen die Gegenmaßnahmen, die Korrekturen von Toleranzbereichen, die Einrichtungen von Naturschutzräumen.

Biologie und Forensik

Dieselben erkenntnistheoretischen Setzungen wie für das Umweltmonitoring gelten auch für den zweiten Bereich der biologischen Spurenkunde, die Kriminalbiologie. Dort haben sie allerdings unmittelbarere Bedeutung. Die Kriminalbiologie befasst sich mit der Untersuchung biologischer Materialien zum Zweck der Aufklärung und Rekonstruktion von Sachverhalten und Ereignissen, die Gegenstände von Prüfungs- bzw. Ermittlungsverfahren sind. Hierbei überwiegt die Untersuchung von Spuren im engeren Sinne. Eine Spur ist allgemein ein materieller Hinweis darauf, dass etwas am Ort war, das dort nicht mehr ist. Im Falle der biologischen Spurenkunde also ein Hinweis darauf, dass ein Lebewesen am Ort war. In der Regel sind das nur noch Teile eines Organismus, Haare z. B. oder Speichelanhaftungen an Zigarettenstummeln, Fingerspuren. Geht es bei der Beurteilung einer Spur zunächst um ihre materielle Beschaffenheit, so erweist sich dies bereits als besonders schwieriges Gebiet. Biologische Spuren sind von ihrer stofflichen Beschaffenheit (Flüssigkeiten, Blätter, Haare usw.), ihrer artlichen Herkunft (300.000 Pflanzenarten, > 10 Mio. Tierarten, Mikroorganismenarten) und ihren Erhaltungsformen (frisch, degradiert, fragmentiert, medial spezifischer Erhalt) sehr unterschiedlich. Deshalb stellt allein ihre erfolgreiche Identifizierung besondere Anforderungen an das Biodiversitätswissen der Biologen.

Jede Spur ist einmalig

Zusätzlich ergeben sich drei besondere erkenntnistheoretische Probleme. Erstens ist eine Spur das Resultat eines historisch und materiell einmaligen Ereignisses, z. B. ein Tötungsdelikt mit dem Messer. Obwohl täglich weltweit viele Menschen erstochen werden, verläuft jede einzelne Tat anders. Zeit, Ort, Motive, Durchführung und Tatbeteiligte wechseln. Ist das Ereignis einmalig, dann sind es auch die in ihm erzeugten Spuren. Einmalige Ereignisse verdanken sich dem Zufall, nicht den Notwendigkeiten von regelhaften Abläufen. Als einmalige Ereignisse haben sie selbst keine wiederkehrende Struktur. Daher ist jede Spur nicht nur historisch einmalig, sondern auch materiell. Aber Spuren verändern durch ihre Materialität die Strukturen an einem Ort. Solche Strukturveränderungen laufen nach empirischen Regeln ab, nach denen es z. B. möglich wird, die Liegezeit eines Körpers auf einer Grasfläche aus dem Aufhellungsgrad des Blattgrüns abzuschätzen oder eine Blutspur als Abtropfspur anzusprechen. Das zweite Problem besteht in der Kontextualisierung einer Spur und einer damit verbundenen logischen Schwierigkeit. An einem Tatort sind viele Spuren vorhanden, jedoch sind nicht alle tatrelevant, weil sie teilweise aus unverbundenen früheren Ereignissen herrühren. Aus der Fülle möglicher Spuren sollen die tatrelevanten gesichert werden, die also in einen tatrelevanten Kontext zu stellen sind. Das ist nur möglich, wenn eine Hypothese über den Tathergang eingeführt wird, der durch die Spurenuntersuchung doch erst ermittelt werden soll. Die mögliche Kontextualisierung einer Blutspur, die als Abtropfspur in die Tatablaufhypothese passen würde, kann also zunächst nur vorläufigen Charakter haben. Erforderlich wäre z. B. die nachfolgende molekulare Absicherung der Zugehörigkeit der Blutspur zum Opfer, zum Täter oder einem beteiligten oder unbeteiligten Dritten. Damit ist das dritte Problem angesprochen, das in der „wissensproduzierenden Erzählung“ über den spurenkundlich rekonstruierten Sachverhalt liegt. Die Bezeichnung „Abtropfspur“ enthält bereits implizit die Beschreibung eines Ablaufs. Solche Beschreibungen gründen auf bekannten und anerkannten naturwissenschaftlichen „normischen“ Regeln („Normalerweise hinterlässt von einer Klinge abtropfendes Blut solche Tropfmuster“). Wissensproduzierende Erzählungen werden in der Wissenschaft vielfältig eingesetzt, wenn die allgemeine Kenntnis die sichere Beschreibung historischer Vorgänge erlaubt, aber unmittelbare Zeugen nicht existieren. Bekannteste Beispiele solcher Erzählungen sind die „Geschichte des Universums“ oder die „Entstehung der Arten“. Jede Bewertung einer Spur ist nun ein Beitrag zu einer wissensproduzierenden Erzählung über den Hergang des Ereignisses. Sie läuft aber Gefahr, Überzeugungsargumente zu enthalten, also Bewertungen, die sich der Auffassung des Gutachters verdanken, die aber nicht auf allgemein akzeptierten Schlussfolgerungen beruhen oder über das verlässlich Aussagbare spekulativ hinausgehen. Die Kriminalbiologie wird damit zu einem der intellektuell wie methodisch anspruchsvollsten Gebiete der angewandten Biologie.

Spurenauswertung im Trend

Biologen im forensischkriminaltechnischen Bereich sind im deutschsprachigen Raum zumeist in rechtsmedizinischen Instituten oder Kriminalämtern tätig, in Einzelfällen auch als selbstständige Gutachter. Hierzulande werden umweltbezogene Studien- und Ausbildungsangebote breit angeboten, jedoch nur in geringerem Umfang mit Bezügenzur biologischen Spurenkunde. Das kriminalbiologische Studien- und Ausbildungsangebot ist hierzulande absolut unzureichend. Angesichts der Tatsache, dass der eindrucksvolle methodische Fortschritt vor allem der Labortechniken ein zunehmendes Spurenaufkommen bewirkt, weil dadurch die Aussichten auf erfolgreiche Spurenauswertung steigen und angesichts der Tatsache, dass das Feld der inneren Sicherheit beständige Zukunftsaufgabe ist, fehlt es an einschlägigen Förderinstrumenten. Einer der wenigen Standorte in Deutschland, an denen spurenkundliche Vertiefung bereits während des Masterstudiums der Biologie erfolgen kann, ist Göttingen. Dort überschreitet die Nachfrage das Platzangebot bislang bei Weitem.

Foto: © Prof. Dr. Bernd Herrmann

L&M 3 / 2012

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 3 / 2012.
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