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L&M-2-2009 > Biomasse - Chemie in überkritischem Wasser

Biomasse - Chemie in überkritischem Wasser

Eine chemische Technologie zur Defunktionalisierung von Biomasse

Prof. Dr.-Ing G. Herbert Vogel,
Technische Chemie, TU Darmstadt

Wir alle wissen, dass die Ölreserven begrenzt sind. Wir wissen auch, dass der Energiebedarf der Weltbevölkerung, die zahlenmäßig schon in wenigen Jahren die Sieben-Milliarden-Grenze überschreiten wird, weiter steigen wird. Alternativen zu fossilen Brennstoffen als Energielieferanten sind angesagt. Politische Parteien, Umweltaktivisten und Interessenvertreter der Energiewirtschaft überschlagen sich mit Vorschlägen und Kommentaren. Häufig weiß man nur, was man nicht will. Eins ist unbestritten: Brennstoffe auf der Basis nachwachsender Rohstoffe unter Vermeidung einer Konkurrenzsituation zu Nahrungsmitteln weisen vielversprechende Perspektiven auf. Man möchte aus allem, was heute auf dem Kompost landet, Biosprit herstellen. Bilanzmäßig sieht das recht gut aus: aus drei Kilogramm Pflanzenresten lässt sich grob ein Liter Treibstoff gewinnen. Nur wie? Es gibt eine Reihe von mehr oder weniger vielversprechenden Ansätzen. Einer davon basiert auf der Dehydrierung in überkritischem Wasser (siehe Kasten, nächste Seite). l&m bat den Darmstädter Technologieprofessor Herbert Vogel, über seine Sicht der Dinge zu berichten. >> JB

Die Art der organischen Rohstoffe, ihre Verfügbarkeit und Preisstruktur bestimmen schon immer die chemische Technologie. Bis zum 18. Jhr. war Holz der dominierende Rohstoff. Ab 1800 wurde das in Europa durch die beginnende Industrialisierung knapper werdende Holz immer mehr durch die leicht zugängliche Kohle ersetzt.

Die Erfindung der Dampfmaschine ermöglichte einen Wechsel der Rohstoffbasis von Holz auf Steinkohle. Die Technik der Kohleveredlung war zunächst die gleiche wie beim Holz: Durch trockenes Erhitzen unter Luftabschluss entstehen Koks, Stadtgas (CO, CO2), wässriges Ammoniak und Steinkohlenteer. Dieser Teer, zunächst ein Abfallprodukt, wurde Mitte des 19. Jhr. zur Rohstoffbasis für die ersten Farbenfabriken, die Vorläufer der modernen chemischen Industrie. Der Wechsel von Kohle auf Erdöl hat die Welt in den 50er- und 60er-Jahren verändert, der Wechsel von Erdöl auf alternative organische Rohstoffe wie Erdgas und nachwachsende Rohstoffe wird die Volkswirtschaften in den nächsten Jahren verändern. Wegen der Endlichkeit und der heute stark fluktuierenden Erdölpreise ist die Erschließung von Biomasse als nachwachsendem Rohstoff für die Chemische Industrie eine Zukunftsaufgabe.

Es gilt eine postfossile Ära der nachhaltigen Stoffwirtschaft zu organisieren und Verfahren basierend auf nicht fossilen Kohlenstoffquellen zu entwickeln. Führt man alle Produktionsverfahren der chemischen Industrie graphisch zusammen, so erhält man die Produktstammbäume, die sich jeweils auf einen Rohstoff zurückführen lassen, gegenwärtig der Erdölproduktestammbaum. Diese Bäume wachsen in komplexen Verbundstandorten, wofür z.B. der Produktionsstandort der BASF in Ludwigshafen ein Beispiel ist. Koppel- und Nebenprodukte sowie Reaktionswärmen können standort intern über Anlagengrenzen hinweg gefahrlos mit geringen Transportkosten synergistisch genutzt werden ( Abb. 2).

Wechsel der Rohstoffbasis

Es ist heute sinnvoll, den nächsten Wechsel der Rohstoffbasis vorzubereiten. Nachwachsende Rohstoffe sind dafür eine nachhaltige Zukunftsoption. Die Entwicklung der dafür notwendigen Prozesse unterliegt besonderen Randbedingungen: Anders als bei Erdöl und Erdgas besteht Biomasse wie:

>> Holz (Verbindung aus Lignin, Cellulose und Hemicellulose)
>> Getreide (Stärke, Eiweiß, Fette)
>> Zuckerrübe (Saccharose)
>> Raps (Öl)

aus einem komplexen Stoffgemisch. Es wird im Primärschritt in:

>> Kohlenhydrate (Stärke, Cellulose, Saccharose, Inulin u.a.)
>> Lignin (Aromaten)
>> Öle/Fette
>> Proteine

aufgearbeitet. Diese primären Bio-Grundchemikalien müssen in sog. Plattform-Chemikalien oder Building Blocks wie:

>> C2-Bausteine: Ethanol
>> C3-Bausteine: Glycerin, Milchsäure
>> C4-Bausteine: Bernsteinsäure
>> Aromaten: Phenol, 5-Hydroxymethylfurfural

umgewandelt werden. Diese Transformationen sollten in dezentralen Bioraffinierien ablaufen. In der nächsten Veredlungsstufe werden diese von der chemischen Industrie eingekauft (analog dem heutigen Naphtha) und in bekannte und neue Zwischenprodukte unter dem Einsatz neuer Verfahren umgewandelt.

Die Erde verfügt über ein enormes Biomassepotenzial;

jährlich wachsen statistisch gesehen 30 Tonnen Biomasse pro Mensch nach. Davon werden nur 405 Kilogramm Biomasse als Nahrungsmittel von jedem Einzelnen von uns im Jahr verbraucht. Der Löwenanteil verrottet. Der Erdölverbrauch liegt im Vergleich dazu in der gleichen Größenordnung (590 kg Erdöl/a Mensch). Die chemischen Probleme, die es bei der Verwendung von Biomasse als Chemikalienrohstoff im Allgemeinen und bei Kohlenhydraten im Besonderen zu lösen gilt, sind völlig anders als beim Erdöl oder Erdgas: Die Hauptprobleme bei ihrer Nutzung sind neben der komplexen Logistik und der begrenzten Anbaufläche vor allem ihre Überfunktionalität mit OH-Gruppen. Während die Kohlenwasserstoffe des Erdöls unterfunktionalisiert sind, sind Kohlenhydrate überfunktionalisiert: Nahezu jedes C-Atom in einem Kohlenhydratmolekül enthält eine OH-Gruppe annähernd gleicher Reaktivität, die eine selektive Defunktionalisierung erschweren. Ein damit verbundenes intrinsisches Problem ist der Massenverlust, der bei der Synthese der klassischen Zwischenprodukte aus Kohlenhydraten durch Dehydratisierung oder Decarboxylierung auftritt. Dies erhöht die spezifischen Rohstoffkosten.
Der gegenteilige Effekt tritt bei der Funktionalisierung der petrochemisch basierten Olefine via Partialoxidationen oder Additionsreaktionen auf, nämlich eine Massenzunahme z. B. durch billigen Luftsauerstoff oder Wasser. Das Methodenarsenal des Chemikers zum selektiven Abbau der diskutierten Überfunktionalität enthält als geeignete Werkzeuge die Katalyse (bio-, homogene und heterogene Katalyse) und den Einsatz von sog. Advanced Solvents (Green Solvents). Mit einem geeigneten Reaktionsmedium (Green Solvent) kann eine einzelne gewünschte Reaktion in einem komplexen Reaktionsnetz ähnlich wie durch einen Katalysator nicht nur beschleunigt, sondern auch selektiver werden; die Grenzen zwischen Katalysator und Reaktionsmedium verwischen sich hier.

Green Solvent: Wasser in überkritischem Zustand

Der Abbau der Hydroxylfunktion gelingt durch Decarboxylierung und/oder Dehydratisierung mit Green Solvents wie z. B. Wasser im nah- und überkritischen Zustand. Denn Wasser im überkritischen Zustand ist ein stark wasserentziehendes (dehydratisierendes) Agens. Wasser spielt bei vielen chemischen Reaktionen als Lösungsmittel, Reaktionspartner und/oder Katalysator eine wichtige Rolle. Wasser ist ubiquitär und unterliegt nicht der Gefahrstoffverordnung. Reaktionen in Wasser tragen somit zur Abfallvermeidung und zur Ressourcenschonung bei. Viele organische Substanzen reagieren allerdings bei niedrigen Temperaturen (< 100 °C) nicht oder nur ungenügend in bzw. mit Wasser. Dieses Verhalten ändert sich jedoch dramatisch, wenn man es unter Druck setzt und gleichzeitig erhitzt. So bildet sich ab 220 bar und ab 372 °C überkritisches Wasser; in ihm verschmelzen die Eigenschaften von Wasserdampf und flüssigem Wasser. Hier zeigt nun die Chemie in überkritischem Wasser ihren wesentlichen Vorteil: Es besteht die Möglichkeit ohne Lösungsmittelwechsel die Eigenschaften des Reaktionsmediums allein durch Änderung von Druck und Temperatur sowie durch den Zusatz von geringen Mengen an Elektrolyten in weiten Bereichen einzustellen und so eine gewünschte Reaktion in einem komplexen Reaktionsnetz zu optimieren. Besonders deutlich ist dies am Verlauf der relativen statischen Dielektrizitätskonstanten und der Eigendissoziation als Funktion von Temperatur und Druck zu sehen, zwei Stoffdaten, welche die Polarität und die Protonen- bzw. Hydroxyl-Ionenkonzentration entscheidend beeinflussen (Abb. 3).













Reaktionen wie z. B. Hydrolysen (Ester, Nitrile) oder Dehydratisierungen (Alkohole) welche sonst nur in Gegenwart starker Säuren oder Basen möglich sind, laufen in nah- und überkritischem Wasser ohne den Zusatz von Säuren ab. So werden z. B. Alkohole leicht in die entsprechenden dehydratisierten Produkte überführt. Das Gleichgewicht liegt trotz des hohen Wasserüberschusses ganz auf der Seite der dehydratisierten Verbindungen (Abb. 4).













Zusätzlich kann die Kinetik der Reaktion im überkritischen Gebiet über den kinetischen Druckeffekt (molares Aktivierungsvolumen V#) beeinflusst werden:





k = Geschwindigkeitskonstante
k0 = Stoßfaktor
Ea = Aktivierungsenergie


Weitere Vorteile der Verwendung von SCW bestehen darin, dass viele organische unpolare Stoffe und Gase praktisch unbegrenzt in SCW löslich sind (keine Stofftransportlimitierung); polare Stoffe und Salze sind hingegen sehr schwer löslich. Fazit Wegen der begrenzten Verfügbarkeit und der stark schwankenden Preise des noch dominierenden fossilen Rohstoffs Erdöl ist die Erschließung von Kohlenhydraten als nachwachsendem Rohstoff für die chemische Industrie eine Zukunftsaufgabe. Heute werden die Möglichkeiten der Chemie in nah- und überkritischem Wasser für die kostengünstige Defunktionalisierung von Kohlenhydraten noch viel zu selten genutzt.

Fotos: © Prof. Dr.-Ing. G. Herbert Vogel

Stichwörter:
Biomasse, Decarboxylierung, Dehydratisierung, Hydrolyse, Green Solvents, überkriticher Zustand

L&M 2 / 2009

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 2 / 2009.
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