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Berufsbild: Forensische Entomologin

Auf den Toten tobt das Leben

Wenn ich zu einer Sektion gerufen werde, liegt meist keine frische Leiche auf dem Tisch. Ein unbekannter, stark zersetzter Leichnam, der am Rheinufer gefunden wurde, eine Wohnungs leiche – der Briefkasten seit Wochen nicht geleert, der Erhängte im Wald, der seit Monaten vermisst wird, das sind die Fälle, in denen es nützlich sein kann, die Nutznießer des Todes zu befragen: die Insekten.

Ich werde oft gefragt, ob das nicht ekelhaft ist, was ich mache. Ob es nicht stinkt und wie ich dann noch was essen kann. Ich bin dann immer leicht verwundert, weil ich mich frage, warum die Leute nicht auf den ersten Blick erkennen, wie elegant und gleichzeitig intelligent die Natur die Sache mit dem Tod eingefädelt hat. Direkt nach Todeseintritt bekommt der Körper einen neuen Nutzen: Er wird Brutstätte und Nahrung für Insekten und Mikroorganismen, die die Bauteile recyceln. Das alleine wäre für den naturinteressierten Biologen schon faszinierend genug, es gibt aber noch ein Zückerchen obendrauf für das evolutiv erprobte Prinzip: die Anwendung in Kriminalfällen. Denn sobald ein Mensch zu Tode kommt und z. B. Schmeißfliegen sich Zugang zum Leichnam verschaffen können, beginnt eine kleine Stoppuhr zu ticken. Zwei biologische Grundsätze führen dazu, dass die Stoppuhr nutzbar ist, um z. B. eine Leichenliegezeit zu berechnen. Zum einen verfolgt die Schmeißfliege das Prinzip der Arterhaltung; sie versucht also, ihre Eier (sobald es geht) an strategisch günstigen Positionen abzulegen, um möglichst viele Nachkommen zu produzieren. So fliegen also zu jedem Zeitpunkt eine Vielzahl zur Ei ablage bereiter Fliegen durch die Welt, um einen passenden Kadaver zu finden.
Setzt man sich bei moderaten Temperaturen neben ein totes Ferkel, dauert es keine 10 Minuten, bis die erste Fliege eintrifft und keine Stunde, bis die ersten Eipakete abgelegt werden (Abb). Die Fliege kann zum einen Flüssigkeit von der Leiche als Nahrung aufnehmen und zum anderen prüft sie mit dem Eiablageapparat, wo eine günstige Stelle für die Nachkommen ist. Die Maden, die aus den Eiern schlüpfen, brauchen es feucht und geschützt, die Fliege checkt also Hautfalten, die Ohren oder Augen und Nasenlöcher, ob es sich lohnt, dort die Eier abzulegen. Das zweite Prinzip ist das temperaturabhängige Wachstumsverhalten der Maden. Grob gesagt wachsen die Maden bei höheren Temperaturen schneller und bei niedrigen Temperaturen langsamer. Die Empfindlichkeit ist so groß, dass 1 ° Celsius bereits einen Unterschied in der Wachstumsgeschwindigkeit macht.

Kennt man nun die Temperaturen, die während der Madenentwicklung geherrscht haben und kennt man außerdem die Wachstumsgeschwindigkeiten der gefundenen Fliegenart, hat man gute Chancen, bis auf den Tag genau zu berechnen, wann die Eier abgelegt wurden. Das Ergebnis kann bei der eingangs erwähnten unbekannten Leiche vom Rheinufer oder der Leiche aus dem Wald der Polizei einen guten Anhaltspunkt für ihre Ermittlungen geben.
Bei der Wohnungsleiche kann es komplizierter werden, denn wie soll man abschätzen, wie schnell die Fliegen es geschafft haben, in die Wohnung zu kommen. Und macht es einen Unterschied, ob das Fenster gekippt ist, die Wohnung im 18. Stockwerk liegt oder der Raum voller Unrat ist? Müsste man seine Einschätzung dazu abgeben, würde man Ja sagen, das hat sicher alles einen Einfluss darauf, wie schnell die Fliegen den Leichnam finden und beginnen, die Eier abzulegen.
Aber wie groß ist der Unterschied? Ebenso die Temperaturen; die verhalten sich innerhalb der Wohnung sicherlich anders als dort, wo die Wetterstation die Daten aufzeichnet, aber wie soll man sie korrigieren, damit die Temperaturen am Fundort gut genug widergespiegelt werden? Die Lösung: Man muss es ausprobieren. Wie in jedem Forschungsgebiet muss man aussagekräftige Experimente machen, um solche Fragen zu klären. Leider stellt sich das oft schwieriger dar als gedacht. Woher nehme ich die Leichen, welchen Raum kann ich nutzen, hat es einen Einfluss auf das Ergebnis, wenn ich zum zehnten Mal den gleichen Raum nutze oder kennen die Fliegen den Spot dann bereits?

Weiterhin stellt sich dann wie für jeden Forscher die leidige Frage der Finanzierung. Es gäbe natürlich die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Der größte und bekannteste finanzielle Unterstützer von Forschungsaufgaben hat jedoch in den letzten 15 Jahren nur einen einzigen Antrag zum Themengebiet genehmigt. Auch befindet es sich, meiner Meinung nach, in der „Fiction-Falle“, wird die Methode doch in Krimis jeder Nationalität, in Film, Fernsehen und auch gedruckt, so oft und routiniert angewendet wie eine Zeugenbefragung. Auch denken Laien, dass es eine durchaus häufige Anwendung bei polizeilichen Ermittlungen ist. Die Realität ist leider eine andere. Dies wurde auch in einer Umfrage an die Endnutzer der Dienstleistung deut lich. Ich habe Einladungen zu einer Umfrage an diverse Einrichtungen zum Forschungsgebiet forensische Entomologie verschickt, darunter viele Staatsanwaltschaften aus Deutschland, außerdem Polizisten und Rechtsmediziner.
Davon hat ein Drittel die Umfrage beendet. 70 % der Befragten, die auch tatsächlich an Todesermittlungen mit arbeiten, waren bereits an einem Fall beteiligt, in dem Insektenspuren ausgewertet wurden. Die meisten gaben an, während ihrer Karriere aber nur in insgesamt 1 –3 Fällen die Insektenspuren zur Auswertung abgegeben zu haben. Keiner in dieser Gruppe war mit dem Ergebnis der Berechnungen unzufrieden. 70 % fanden das Er gebnis zudem relativ genau, die restlichen 30 % erinnerten sich nicht. Fragt man jedoch nach der Meinung, ob das Gebiet ausreichend erforscht oder doch eher in den Kinderschuhen zu stecken scheint, antwortet 1/3 „ausreichend erforscht“, 1/3 „in den Kinderschuhen steckend“ und 1/3 „weiß ich nicht“. Zurecht herrscht hier Unsicherheit, denn es gibt so viele Szenarien, in denen wir nur spekulieren können. Simple, aber effektive Experimente, die wenig kosten, könnten da schon einen großen Fortschritt bringen. Zur Frage, wie lange es dauert, bis die Fliegen Kadaver in einem Raum mit gekippten Fenstern finden, habe ich z.B. in meinem alten Kinderzimmer nacheinander 9 tote Ferkel ausgelegt und die Zeit gemessen, bis die ersten Fliegen bzw. die Eipakete beobachtet werden konnten. Wer weiß, wie sich das Forschungsgebiet weiterentwickelt und etablieren wird. So viel ist klar, es bleibt spannend.

Ach ja, auf die Frage, ob es nicht stinkt, antworte ich im Übrigen meist: „Ja, aber‚ et es, wie et es‘.“

Foto: © Dr. Saskia Reibe

L&M 3 / 2012

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 3 / 2012.
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