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Humane endogene Retroviren, Tumore und die Plazenta

Humane endogene Retroviren, Tumore und die Plazenta

Mehr als DNA-Müll

Humane endogene Retroviren, Tumore und die Plazenta Dr. Joachim Denner, Robert-Koch-Institut, Berlin Im Genom des Menschen findet man so genannte endogene Retroviren, sie sind das Produkt früherer Infektionen und nachfolgender Endogenisierung. Während exogene Retroviren wie HIV Immunschwächen und Tumore induzieren, waren die Funktionen der endogenen Retroviren lange Zeit weitgehend unbekannt. Heute weiß man mehr. Endogene Retroviren verhalten sich wie normale Gene.

Endogene Retroviren verhalten sich wie normale Gene

Retroviren sind Viren mit einer Lipidhülle und einem RNA-Genom. Der bekannteste Vertreter dieser Viren ist sicherlich das humane Immundefizienzvirus (HIV-1), das die erworbene Immunschwäche AIDS hervorruft. Andere Retroviren wie das Katzenleukämievirus (feline leukaemia virus, FeLV) und das humane T-Zell Leukämievirus (HTLV) induzieren Tumore und zusätzlich Immunschwächen im infizierten Wirt. Retroviren besitzen ein Enzym, die Reverse Transkriptase (RT), von der sich auch der Name dieser Viren ableitet. Mithilfe der RT wird das virale RNAGenom in eine DNA-Kopie umgewandelt und diese wird in das Genom der infizierten Zelle eingebaut. Die integrierte DNA-Kopie nennt man Provirus. Retroviren infizieren nur Zellen, die den spezifischen Virusrezeptor auf der Oberfläche exprimieren, bei HIV-1 sind das T-Zellen mit dem Rezeptormolekül CD4. Auch auf den Keimzellen finden sich Rezeptoren für Retroviren und wenn ein Retrovirus Eizellen oder Spermien infiziert, findet man das integrierte Provirus in der befruchteten Eizelle. Bei jeder Zellteilung wird das Provirus an die Tochterzellen weitergegeben. Diese Proviren nennt man im Unterschied zu den exogenen Retroviren wie HIV-1, das nur in CD4+-Zellen vorkommt, endogene Retroviren. Sie sind in allen Zellen des Organismus vorhanden, sie verhalten sich wie normale zelluläre Gene und werden wie diese auf die Nachkommenschaft gemäß den Mendelschen Vererbungsgesetzen übertragen. Die Mehrzahl der im menschlichen Genom vorhandenen humanen endogenen Retroviren (HERV) wurde vor etwa 40 Millionen Jahren akquiriert, inzwischen sind die meisten dieser HERVs aufgrund von Mutationen und Deletionen defekt und können keine infektiösen Viruspartikel mehr bilden. Anders als beim Menschen und bei Primaten ist die Situation zum Beispiel bei Mäusen, Katzen, Koalas und Schweinen. Einige der endogenen Retroviren dieser Tiere sind sehr wohl in der Lage, noch Partikel auszubilden, die infektiös für Tiere der gleichen oder auch anderer Spezies sind.

HERVs: Junk-DNA versus funktionelle genetische Elemente

Das Ironische an der Geschichte ist, dass es keinen Mechanismus gibt, um die endogenen Retroviren wieder aus dem menschlichen Genom zu entfernen. Die einzige Möglichkeit, die neu hinzugekommenen genetischen Informationen zu reduzieren, sind Rekombinationen, durch die allerdings nur ein Teil der viralen Sequenz entfernt werden kann, der Rest bleibt. Somit akkumulieren immer wieder neu akquirierte endogene Retroviren, die sich im Genom auch noch vermehrt haben, indem sie in andere Regionen des menschlichen Genoms gesprungen sind und sich dort integriert haben. Weil sie keine Partikel mehr bilden und keine Funktion haben, sind sie anfällig für Mutationen und Deletionen. Lange Zeit dachte man, dass das für alle endogenen Retroviren zutrifft und bezeichnete diese defekten Provirusreste als Junk-DNA (DNA-Müll). Heute weiß man, dass das wahrscheinlich für viele, wenn nicht die meisten endogenen Retroviren zutrifft, aber es gibt auch Ausnahmen. Das Genom der Retroviren besteht neben den Genen für die Strukturproteine wie dem Kapsidprotein Gag, dem Hüllprotein Env und dem Gen für die RT aus randständigen Sequenzen, die Regulatorsequenzen enthalten. Bei der Integration kommt es zu einer Verdopplung dieser Sequenzen, die dann als LTR bezeichnet werden und die die Expression der viralen Gene regulieren (Abb. 1).


Abb.1: Aufbau eines im menschlichen Genom integrierten Provirus des humanen endogenen Retrovirus HERV-K. Die „long terminal repeats“ (LTR) bestehen aus R (repetitiven), U5 (unikalen 5`) und U3 (unikalen 3`) Sequenzen. Gag kodiert für die Kapsidproteine, pol für die Reverse Transkriptase, env für die Hüllproteine. Env, Rec und Np9 werden von gespleißter mRNA gebildet. Auf beiden Seiten ist die zelluläre DNA angedeutet.

Die Integration der Retroviren in zelluläre Gene hat in vielen Fällen zur Veränderung der Expression dieser Gene geführt, wofür vorwiegend die retroviralen LTRs als neue Regulatoren der Expression verantwortlich sind. Etwa 20 Gene des Menschen werden durch retrovirale LTR kontrolliert. Ein Beispiel ist die Integration von HERV-E in eine duplizierte Kopie des Amylasegens, was zum Umschalten der Amylaseproduktion von dem Pankreas zur Speicheldrüse bei den Primaten führte, wodurch stärkehaltige Nahrung besser verdaut werden kann. Damit tragen die retroviralen Sequenzen zur Plastizität des menschlichen Genoms und zur Evolution bei.

Retrovirale Proteine mit physiologischen Aufgaben

Ungeachtet der langen Zeit seit der Infektion und Endogenisierung der HERVs findet man bei einigen dieser Viren Gene mit noch offenen Leserastern, was auf eine Funktion dieser Gene für den Wirt hinweist. Hätten sie keine Funktion, die wichtig für den Wirt ist, hätten Mutationen und Deletionen die offenen Leseraster zerstört. In der Plazenta, dem Organ, das während der Schwangerschaft für den Gas- und Nährstoffaustausch zwischen Mutter und Embryo bzw. Fetus verantwortlich ist, wurde eine verstärkte Expression verschiedener HERVs beobachtet. Am stärksten exprimiert sind die Hüllproteine von HERV-W (auch bekannt als Syncitin- 1), HERV-FRD (Syncitin-2) und HERV-K (Abb. 2).


Abb. 2: Immunhistochemischer Nachweis des transmembranen Hüllproteins von HERV-K in formalin-fixiertem Plazentagewebe des Menschen. Die schwarzen Pfeile markieren die HERV-K exprimierenden Cytotrophoblasten, der weiße Pfeil die Syncytiotrophoblasten (Kämmerer et al., in Vorbereitung).

Für Syncitin-1 war gezeigt worden, dass es verantwortlich ist für die Fusion der Cytotrophoblasten in der Plazenta zu einem mehrkernigen Syncytiotrophoblasten, der direkt die äußere Zellschicht der Plazenta bildet und so unmittelbaren Kontakt mit dem mütterlichen Blut- und Immunsystem hat. Eine ähnliche Verwendung endogener Retroviren für die Ausbildung der Plazenta, die man bildlich als „Versklavung“ bezeichnen kann, wurde auch bei Schafen und Mäusen beobachtet, wobei dort andere endogene Retroviren als beim Menschen „versklavt“ wurden. Es konnte gezeigt werden, dass eine veränderte Expression der Syncitine zu Störungen der Entwicklung der Plazenta führt. Hinzu kommt, dass für Syncitin-2 (HERV-FRD) und das transmembrane Hüllprotein von HERV-K, nicht aber für Syncytin-1 (HERV-W) immunsuppressive Eigenschaften nachgewiesen wurden, die zum Schutz des Embryos (das ja ein Semi-Allotransplantat ist) vor der Abstoßung durch das mütterliche Immunsystem beitragen können.

HERVs und Tumore

Für eine Reihe von exogenen Retroviren ist ihre Beteiligung an der Entstehung von Tumoren gesichert. Das gilt zum Beispiel für das Katzenleukämievirus (FeLV) und für die humanen T-Zell Leukämieviren HTLV-1 und HTLV-2. Die Entstehung der Leukämien ist meist durch Insertionsmutagenese bedingt, also durch eine Integration des Provirus in der Nähe eines Proto- Onkogens oder Tumorsuppressorgens. Bei den exogenen Katzen- und Mausleukämieviren sind oft Rekombinationen mit endogenen Retroviren Voraussetzung für eine Tumorentstehung. Die Rolle der HERV bei der Tumorentstehung beim Menschen ist bis heute noch unklar. Im Unterschied zum normalen Gewebe wurde eine erhöhte Expression von HERV-K in Keimzelltumoren und in Melanomen beschrieben. Bei den Tumorpatienten wurden auch spezifische Antikörper gegen HERV-K nachgewiesen. Allerdings ist noch unklar, ob das Provirus an der Tumorentstehung ursächlich beteiligt ist und wenn ja, wie. Im Unterschied zu den einfachen Gammaretroviren, zu denen zum Beispiel das FeLV gehört, ist HERV-K ein komplexeres Virus und kodiert neben den Hauptstrukturproteinen des Kapsids (gag), der Hülle (env) sowie des Reverse Transkriptase- und Integrase-Komplexes (pol) auch noch akzessorische Proteine, wenn auch nicht so viele wie HIV (Abb. 1). Vor allem das mit dem Rev Protein von HIV verwandte Rec Protein sowie das Np9 von HERV-K sind möglicherweise an der Tumorentstehung beteiligt. Die bei Melanomen und Keimzelltumoren nachgewiesene Expression des immunsuppressiven transmembranen Hüllproteins von HERV-K auf der Oberfläche der Tumorzellen (Abb. 3) könnte zusätzlich zur Tumorprogression beitragen.

Zusammenfassung

Humane endogene Retroviren sind genetische Elemente, die das Ergebnis einer retroviralen Infektion und Integration in die Keimbahn des Menschen darstellen. Endogene Retroviren stellen im menschlichen Genom einerseits Junk-DNA dar, die nicht eliminiert werden kann, andererseits sind bestimmte endogene Retroviren für physiologische Prozesse wie die Plazentabildung oder die Regulation zellulärer Gene notwendig. Zur Aufklärung der Funktion der humanen endogenen Retroviren bei der Entstehung von Tumoren beim Menschen bedarf es noch intensiver Forschungen.


Abb. 3: A Immunhistochemischer Nachweis des transmembranen Hüllproteins von HERVK in einer Lymphknotenmetastase eines Melanoms. B, Immunfluoreszenznachweis der Expression des transmembranen Hüllproteins von HERV-K auf der Oberfläche von Melanomzellen (Büscher et al.).




Literatur

Denner J. (2009) Endogenous retroviruses. In: Kurth R, Bannert N, Hrsg.,
Retroviruses: Molecular Microbiology and Genomics. Hethersett, UK: Horizon Press [in press]

Bannert, N. & Kurth, R. (2004) Proc Natl Acad Sci U S A. 101 Suppl 2, 14572-14579

Ruprecht K, et al. (2008) Cell. Mol. Life Sci. 65, 10008- 10016

Büscher K, et al. (2005) Cancer Res. 65, 4172-4180

Stichwörter:
Retrovirus, Endogene Retroviren, Tumoren, Plazenta, HERV, Junk-DNA,

L&M 5 / 2009

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 5 / 2009.
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