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Das enterische Nervensystem

Das enterische Nervensystem

Gehirn im Bauch

Was wäre wenn? Was wäre, wenn man Ihnen erzählt, dass der Darm denkenkann? Nervenzellen und Darm? Ist das nicht ein Widerspruch in sich? Sie sollten es dennoch glauben! Das Denken des Darmes entspricht vielleicht nicht dem, was wir uns gemeinhin als Denken vorstellen, aber immerhin enthält der Gastrointestinaltrakt mehr Nervenzellen als das Rückenmark: ca. 1 Mio. bei Mäusen und bis zu 600 Mio. beim Menschen. Und die braucht er auch.

Das Gehirn im Bauch

Das enterische Nervensystem (ENS) durchzieht den Gastrointestinaltrakt vom Ösophagus bis hin zum Rectum und von der Schleimhaut bis zur Serosa. Der Darm ist also in allen Richtungen von Nervengewebe durchwoben. Allerdings ist die Struktur des ENS in allen Darmabschnitten unterschiedlich und an die funktionelle Situationangepasst. Man kann sich das ENS wie ein Armierungsgewebe in Hochdruckschläuchen vorstellen, es durchzieht den Darmschlauch als Netz. Allerdings nicht als ein einziges, sondern gleich im Doppel-, Triple- oder Quadruplepaket, abhängig von der Spezies. Prinzipiell unterscheiden wir zwei größere ganglionäre Netzwerke, die so genannten Plexus, den Plexus myentericus (Abb. 1a) zwischen der Längs- und Ringmuskelschicht des Darmes und den Plexus submucosus in der Verschiebeschicht unter der Schleimhaut (Abb. 1b). Finden wir bei der Maus oder der Ratte nur einen Plexus submucosus, so sind es beim Menschen schon drei. Zusätzlich finden wir aganglionäre Netzwerke in der Muskulatur, der Serosa oder der Schleimhaut.
Das ENS gehört zum peripheren Nervensystem und wird daher oft in seiner Komplexität unterschätzt. Wir finden dort die gleichen Transmitter und eine ähnliche Vielzahl an unterschiedlichen Nervenzelltypen wie auch im zentralen Nervensystem: Es lassen sich neben exzitatorischen und inhibitorischen Motoneuronen sekretomotorische und vasomotorische Neurone, Interneurone und sensorische Neurone identifizieren. Die Identifizierung einzelner neuronaler Typen sowie ihre Rolle in spezifischen Krankheitsbildern kann von großer Bedeutung sein. Wir haben deshalb eine enzymatische Technik entwickelt, mit der es möglich ist, das enterische Nervengewebe aus der Darmwand herauszulösen und es so auf vielfältige Arten zu untersuchen (Abb. 2). Aktuell konnten wir an isolierten enterischen Neuronen (Abb. 3) zeigen, dass ein spezifischer Wachstumsfaktor – FGF-2 (Fibroblastenwachstumsfaktor- 2) – für die Entwicklung einer Subpopulationenterischer Neurone verantwortlich ist [1]. Anhand einer morphometrischen Analyse einzelner enterischer Neurone auf der Grundlage fraktaler Algorithmenkonnten wir eine 40 % ige ReduzierungCalbindin- positiver Neurone in vitro und in vivo beweisen. Funktionell führt der Verlust dieser offensichtlich zu den sekretomotorischen Nervenzellen gehörenden Neurone zu einer höheren Durchlässigkeit der Mucosabarriere.

Wo Nerven sind, da ist auch Glia

Oft wird die Rolle der zweiten wesentlichen Komponente des ENS, der enterischen Gliazelle, verkannt. Während wir von den Gliazellen des ZNS wissen, dass sie eine heterogene Gruppe mit unterschiedlichen Funktionen darstellen (Astrozyten, Oligodendrozyten, Tanyzyten), wurde die enterische Glia lange Zeit in einenTopf mit anderen Gliazellen des peripherenNervensystems geworfen, den Schwannzellen. Allmählich lernen wir jedoch, dass die enterische Glia eine ganz eigene und darüber hinaus eine heterogene eigene Gliapopulation darstellt. Die enterische Glia lässt sich durch eine ganze Reihe von Markern darstellen, wobei S100b, Sox10, GFAP oder BFABP adulte enterische Glia im Nager markieren. GFAP lässt sich in der humanen enterischen Glia nur in besonderen Fällen färben: im Rahmeneiner Infektion oder Erkrankung des Darmes. Dies kann eine banale Appendicitis sein, aber auch ein Morbus Crohn [2], ein Colonkarzinom oder eine Dysganglionose. Letztere ist durch eine Reduzierung oder ein komplettes Fehlen von Ganglien beider Plexus gekennzeichnet. In all diesen Fällen sehen wir eine Zunahme der GFAP-Expression in der enterischen Glia. Im Prinzip können wir von einer reaktivenGliose sprechen, ähnlich der, wie sie auch im ZNS zu sehen ist. Die Reaktion der enterischen Glia spricht für eine gewisse Plastizität des Systems, wie sie auch für die Nervenzellen bekannt ist. Ein Maß für die Plastizität stellt auch die Menge an neuronalen Stammzellen dar, die wir im ENS finden können. Untersuchungen an einer GFP-Nestin-transgenen Maus zeigen, dass der neuronale Stammzellmarker Nestin in einer großen Anzahl von Gliazellen exprimiert wird. Allerdings zeigen auch einige Neurone eine ausgeprägte Nestinexpression. Die Tatsache, dass so viele neuronale Stammzellen im Darm zu finden sind, lässt ihn als ideale autologe neuronale Stammzellquelle erscheinen. Eine Isolation – selbst im adulten Darm (bei Nagernund Mensch) – ist möglich und in unserer Arbeitsgruppe etabliert.

Auch das erwachsene Nervensystem pflanzt sich fort

Noch steht es nicht in allen Lehrbüchern, aber das Dogma des permanent sterbenden Gehirns ist nicht mehr zu halten. Bestand bis vor wenigen Jahren die gängige Lehrmeinung darin, dass sich das Nervensystem zwar in der Peripherie regenerieren, aber der Verlust von Nervenzellen nicht mehr ausgeglichen werden kann, so wissen wir heute, dass es im Gehirn Regionen gibt, die permanent neue Nervenzellen produzieren: Regionen mit Stammzellcharakter. Diese finden sich in der unmittelbaren Nähe der Hirnhohlräume (Seitenventrikel) bzw. am Ort der höchsten Plastizität, dem Hippocampus. Hier werden permanent neue Eindrücke verarbeitet und für die Langzeitspeicherung vorbereitet. Hier findet sich auch ein Protein, das sich normalerweise nur im embryonalen Gehirn findet: das wachstumsassoziierte Protein 43 oder neudeutsch GAP 43 (growth-associated protein). Abgesehen vom adulten Hippocampus findet sich GAP 43 auch im adulten ENS. Dies wundert nicht mehr, da das ENS ja ein Ort großer Plastizität ist. Ähnlich dem Hippocampus finden sich im ENS aber auch neuronale Stammzellen in großer Zahl. Seit einigen Jahren stehen diese Stammzellen als Option im Fokus der neurogastroenterologischen Forschung, dysganglionäre Erkrankungen des Magen- Darm-Traktes zu therapieren. Dysganglionosen sind Krankheitsbilder, bei denen ein Teil oder sogar das komplette ENS nicht vorhanden ist bzw. nur eingeschränkt funktioniert. Eins von 5000 Kindern wird z. B. mit einem Morbus Hirschsprung geboren. Diese Krankheit zeichnet sich durch das Fehlen enterischer Ganglien im distalen Colon aus. In Extremfällen ist der gesamte Darm betroffen, was mit dem Lebennicht vereinbar ist. Früher sind auch Kinder mit kurzstreckigen Aganglionosen verstorben, am so genannten Megacolon congenitum. Die Aganglionose führt zu einerStenose des betroffenen Darmabschnitts, das proximale Darmsegment erweitert sich aufgrund der Stauung und irgendwann wird die Darmwand so durchlässig, dass Bakterien in großer Zahl hindurchwandern und eine letztendlich tödlicheSepsis verursachen. Dies lässt sich heute durch das Entfernen des aganglionären Segments vermeiden, viele Kinder haben allerdings nach der Operation nach wie vor große Probleme mit dem Stuhlgang. Für diese Fälle – und natürlich für die nichtoperablen kompletten Aganglionosen – stellt die Stammzelltherapie eine hoffnungsvolle Option dar [3]. Neuronale Stammzellen lassen sich aus Darmwand- und Schleimhautbiopsien isolieren und expandieren. Die Expansion ist ein wesentlicher Schritt, da sich in der Regel nur wenige primäre neuronale Stammzellen gewinnen lassen. Nach wie vor ist jedoch unklar, wie die neuronale Stammzelle des Darms charakterisiert ist. Höchst wahrscheinlich müssen wir davon ausgehen, dass es nicht nur eine Stammzelle bzw. einen Stammzellmarker, sondern unterschiedliche gibt. Die eindeutige Identifizierung der enterischen neuronalen Stammzellen erlaubt die Isolierung mittels Durchflusszytometrie. Zurzeit werden neuronale Stammzellen über Nestin-, p75 oder Sox 10 identifiziert und gesortet. Diese Stammzellen werden in so genannten Neurosphärenkulturen angereichert und expandiert (Abb. 4).
Die alleinige Transplantation von Stammzellen reicht allerdings nicht aus. Die Zellen müssen auch in die Mikroumgebung integriert werden und ein funktionelles Netzwerk bilden. Es wäre fatal, Zellenin ein Gewebe zu transplantieren, welches das Wachstum und die Integration der Spenderzellen nicht erlaubt. In einer kürzlich publizierten Studie haben wir daherdie Interaktion der Spenderzellen mit der pathologischen Mikroumgebung im Morbus Hirschsprung simuliert [4]. Aus unterschiedlichen Segmenten der pathologisch veränderten Darmabschnitte wurdenProteinextrakte generiert und primäreenterischeNeurone und neuronale Stammzellen damit konfrontiert. Es konnte gezeigt werden, dass alle pathologischen Darmabschnitte ein Überleben und Auswachsen der transplantierten Zellen gewährleisten.

Der Mensch ist, was er isst

Wie bereits oben angedeutet, reagiert der Darm und mit ihm sein Nervensystem sehr plastisch auf Veränderungen der Lebensgewohnheiten oder im Rahmen von Erkrankungen. Eine zentrale Rolle spielen hier die so genannten entzündlichen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa. In den letzten Jahren zeigt sich immer mehr, welche wichtige Rolle das Darmnervensystem im Verlauf dieser Erkrankungen spielt. Zum Beispiel ändert sich die Zusammensetzung der Neurotransmitter im myenterischen Plexus bei Patienten mit Morbus Crohn. Die Expression des Gliamarkers GFAP nimmt zu und mit ihr die Expression des glialen Wachstumsfaktors GDNF, einem wesentlichen neurotrophen Faktor für die Entwicklungdes ENS [2]. In einer kürzlich publizierten Studie konnte gezeigt werden, dass GDNF (Abb. 5) und andere neurotrophe Faktoren und Zytokine in unterschiedlichen Konzentrationen in Muttermilch enthalten sind [5]. Der Gehalt an GDNF ist z. B. im so genannten Kolostrum, der ersten Milch, am höchsten und nimmt mit zunehmender Stillzeit ab. „Füttert“ man Kulturen des ENS mit Proteinextrakten aus der Muttermilch unterschiedlicher Mütter, so bilden diese Nervenzellen unterschiedlich lange Neuriten. Zusätzlich nimmt die Zahl der neuronalen Stammzellen in den Kulturen zu.
Das ENS reagiert allerdings nicht nur auf Muttermilch, sondern auf jegliche Art der Ernährung. Ein gesellschaftlich durchaus anerkanntes Zellgift setzt dem ENS ebenfalls zu: Ethanol. Alkohol führt nicht nur zu einem Verlust von Nervenzellen im Gehirn, sondern auch im Bauchgehirn (Abb. 6). Die Auswirkungen von chronischem Alkoholmissbrauch auf das Darmnervensystem sind bisher nur im Tiermodell untersucht worden, zeigen dort aber signifikante Veränderungen [6]. Ähnliches ist für den Alkoholgenuss während der Schwangerschaft zu erwarten. Erste Versuche in einem Hühnereimodell (in ein befruchtetes Hühnerei wird eine bestimmte Menge Alkohol injiziert) zeigen signifikante Veränderungen des ENS.
Auch unsere zivilisationsbedingte Überernährung wirkt sich auf das Befinden des Bauchgehirns aus. Offensichtlich sind die Darmnervenzellen bei Versuchstieren, die uneingeschränkt (ad libitum) Zugang auf ihre Nahrungsmittel haben, gegenüber oxidativem Stress deutlich empfindlicher [7]. Das heißt: Nervenzellen auf Diät haben bessere Überlebenschancen.

Fazit

Alles in allem verdient das ENS mehr Aufmerksamkeit: als stiller Kommunikator gastro intestinaler Aktivität, als solider Partner bei der Adaptierung des Darmes oder nicht zuletzt als autologe neuronale Stammzellquelle.

Literatur

[1] Hagl et al., FGF2 deficit during development leads to specific neuronal cell loss in the enteric nervous system. Histochem Cell Biol, 2012, Epub ahead of print.
[2] Von Boyen et al. Proinflammatory cytokines increase GFAP expression in enteric glia, GUT, 2004, 53: 222-8.
[3] Rauch et al., Isolation and cultivation of neuronal precursor cells from the developing human enteric nervous system as a tool for cell therapy in dysganglionosis. International Journal of Colorectal Diseases. 2006, 21: 554-559.
[4] Hagl et al. The microenvironment in the Hirschsprung’s disease gut supports myenteric plexus growth. Int J Colorectal Dis. 2012 [Epub ahead of print].
[5] Fichter et al. Breast milk contains relevant neurotrophicfactors and cytokines for enteric nervous system development.
Mol Nutr Food Res. 2011, 55:1592-6.
[6] Bagyánszki et al. Chronic alcohol consumption induces an
overproduction of NO by nNOS- and iNOS-expressing
myenteric neurons in the murine small Intestine. Neurogastroenterol
Motil. 2011, 23:e237-48.
[7] C. Thrasivoulou et al., Reactive oxygen species, dietary restriction
and neurotrophic factors in age-related loss of
myenteric neurons, Aging Cell, 2006, 5: 247-257.

Foto: © Prof. Dr. med. Karl-Herbert Schäfer

L&M 8 / 2012

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 8 / 2012.
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