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L&M-5-2008 > Hirnforschung

Hirnforschung

Wie Bilder Weltbilder machen.

Prof. Dr. Petra Gehring, TU Darmstadt

Seit einigen Jahren hat Hirnforschung Dauerkonjunktur – und zwar weit jenseits medizinischer Fragen. Warum aber sind Aussagen von Hirnforschern zu Willensfreiheit, Intelligenz, Kriminalität so spannend? Warum ist „Neuro“ in den Massenmedien so beliebt? In der Tat eine offene Frage. Weiß man, wie das Hirn funktioniert? Nicht wirklich. Würden wir aus unserem eigenen Hirn gern eine biotechnische Großbaustelle machen? Auch das nicht. Haben Neuroforscher eine überzeugende Vision für ein besseres Zusammenleben oder sind sie sonst wie besonders klug? Ach wo.

Aber: Das Hirn ist neuerdings bunt! Dank computergenerierter Bilder scheint es so, als könne man hineinsehen. Das Innere des Kopfes erstrahlt in poppigen Farben. Und populärwissenschaftliche Magazine wie auch ihre Leser lieben das. „Neue bildgebende Verfahren“ heißt das Zauberwort! Zwar ist umstritten, was diese Verfahren tatsächlich zur Darstellung bringen – aufgrund komplizierter Rechungen werden „Aktivitäten“ (genauer: wird der Energieverbrauch) in den Hirnregionen von Versuchspersonen typisiert, angefärbt und dadurch sichtbar. Ein Durchbruch für das Verständnis der Arbeitsweise des Hirns ist das aber bisher nicht – denn warum welches Hirn wann, wo und wie Energie aufwendet, versteht die Hirnforschung nicht. Im Gegenteil, traditionelle Vermutungen geraten durch bildgebende Verfahren eher ins Wanken. Etwa die sogenannte Lokalisationshypothese: Lange vermutete man, dass eine „Funktion“ im Gehirn auch stets an einen mehr oder weniger festen Ort gehöre. Bildgebende Verfahren zeigen aber vielfach vernetzte und äußerst wandelbare Aktivitätsmuster bei fast allem, was wir tun. Auch sind die Unterschiede von Mensch zu Mensch erstaunlich groß. Man muss sich fragen, ob es im Hirn überhaupt Standards gibt. Gleichwohl sind die schönen bunten Bilder ein Meilenstein für die Popularität des Gehirns. Pop kommt von populär. Und so gedeihen in den letzten Jahren neue Weltbilder – Pop-Thesen über das Gehirn. Etwa: Der freie Wille ist eine Illusion, wir werden vom Gehirn gesteuert. Klingt gut. Freilich: Wer oder was steuert das Gehirn? Oder: Im Experiment kann man Gedanken „sehen“. Klingt gut. Freilich: Kommen entsprechende Deutungen von Messdaten nicht erst durch Training und Auskünfte der Versuchspersonen zustande? Oder: Der inhaftierte Mörder hat ein auffälliges Hirnbild. Klingt gut. Freilich: Wie sähe unser Hirnbild aus, nach Jahren der Medikamenteneinnahme und des stumpfen Lebens in der Zelle? Schließlich: Die Neurowissenschaft revolutioniert das Menschenbild. Auch das klingt gut. Sind die Methoden der Hirnforschung aber wirklich präziser und ihre Theorien fundierter als das Denken der letzten zweitausend Jahre? Man darf gespannt sein. Bisher besteht die Neuro-Revolution aus einer Bildershow. In der Popkultur ändern sich die Vorlieben des Publikums schnell. In der Pop-Wissenschaft dürfte das ähnlich sein. Popt dann ein anderes Organ?


Traum und Wirklichkeit:
Zur Geschichte einer Unterscheidung
Frankfurt am Main, New York
(campus Verlag) 2008
290 Seiten; 24,90 Euro
ISBN 978-3-593-38735-2

Foto: © Prof. Dr. Petra Gehring

Stichwörter:
Hirnforschung

L&M 5 / 2008

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